26.01.2022 | Kanu (Allg.)

Kajaks, Treibeis und die Suche nach dem Vitamin C

Kanu-Geschichte: Arne Hoygaard und die Expedition in den Treibeisgürtel
Abbildung 1: Hoygaard (1949), „Groß ist die Liebe der Eltern zu ihren Kindern.“

Hoygaard (1906 * - 1981 ✝︎) hörte Anfang der dreißiger Jahre von den Problemen, die mit dem Dasein der Menschen in arktischen Lebensräumen verknüpft sind: Skorbut, Säurevergiftung und der Stoffwechselveränderungen. Dabei handelte es sich quasi um „Berufskrankheiten“, die aber vorwiegend die dort lebenden und arbeitenden Europäer betrafen. Die Eskimos hingegen kannten zwar diese Zustände, doch kamen sie bei ihnen selten vor und sie wussten genau, wie sie diese heilen konnten. Da es zu jener Zeit gerade geglückt war, eine Reihe von chemischen Methoden zur Bestimmung des Vitamin C zu finden, entschloss sich Hoygaard mit einer Gruppe von Wissenschaftlern eine längere Expedition nach Grönland vorzunehmen; genauer gesagt nach Angmagssalik. Mit der Absicht, in der Ernährung der Eskimos das Vitamin C zu bestimmen, betritt er im Herbst 1936 Ostgrönland. 

Die Natur wird zur Herausforderung 

Zu dieser Zeit wurde das Wetter zunehmend ungemütlicher. Die Sturmsaison hatte begonnen und die Wissenschaftler mussten in der kleinen Siedlung in den Schären Ostgrönlands ausharren. Rasch wurden die Vorräte an frischem Fleisch und Gemüse knapp. „Es kam zu einer elenden Fangzeit“, notierte der Arzt in seinen Aufzeichnungen, „die Kost wurde immer kärglicher“. Erst als das Wetter einige Tage aufklarte, machten sich mutige „Kajakruderer“, wie Hoygaard sie nannte, zur Jagd auf. Dabei war jedesmal die Zeit knapp, denn die Jagd und die Rückkehr musste in den rund vier Stunden Tageslicht gelingen.

Gerade zu dieser Jahreszeit kam es dann auch immer wieder zu tödlichen Unfällen, wenn ein Kajak an triftenden scharfen Eisschollen leckschlug oder im Sturm kenterte. Den Jägern blieb aber nichts anderes übrig, als dieses Risiko einzugehen, wollten sie ihre Siedlung versorgen. Nach einigen Tagen Jagd gelang es den Kajakfahrern einen Fang Robben nach Angmagssalik zu bringen, den sie am Rande des Eises gemacht hatten. Die Wissenschaftler tauschten unter anderem Tabak, Kaffee und Schokolade gegen Fleisch. Geld spielte zu dieser Zeit und an dieser Stelle der Erde keine große Rolle. 

Kajaks sicherten das Überleben der Jägergesellschaft

Hoygaard erkannte, dass die Kajaks („Qajaq“ sprechen es die Inuit aus) den Dreh- und Angelpunkt im Überleben der Eskimos bildeten. Er fertigte neben seinen wissenschaftlichen Arbeiten ebenso Aufzeichnungen über die Konstruktion und den Gebrauch der Boote an: Die zerbrechlichen Kajaks bestanden aus fellbespannten Knochen- und Holzgerüsten. Sie dienten zur Jagd, als Transportmittel sowie für Post- und Botengänge, waren aber auch Risiko und Todesursache zugleich. Ein hoher Prozentsatz an Todesfällen von Männern wurde durch das Verunglücken im Kajak hervorgerufen. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass sie einen Großteil ihres Lebens im Boot verbrachten. „Die kühnen Fänger fahren oft weit, weit ins Treibeis hinaus und kommen abends oft genug nur mit Mühe und Not wieder heim“, schreibt Hoygaard. Nicht selten versperrte ein Eisriegel die Heimfahrt, über den das Kajak und auch der Fang herübergetragen werden musste. Solche Portagen konnten bei einem Sturz von der Eisscholle ins Wasser schnell lebensgefährlich werden, denn es liegt auf der Hand, dass die Eskimos im Polarmeer kaum Möglichkeiten zum Erlernen des Schwimmens hatten. Immerhin kühlt der Polarstrom das Meer an Grönlands Ostküste selbst im Hochsommer auf rund drei Grad ab.  

Gerade vor diesem Hintergrund bewertete Hoygaard die Kunst, „wieder auf den rechten Kiel zu kommen“, also die Kenter- oder Eskimorolle, als besonders entscheidend. Wem sie nicht gelingt, dem ist ein „Kentern gleichbedeutend mit dem Tode des Ertrinkens“. 

Ein anderes Unglück, welches einem bei der Kajakfahrt zustoßen konnte, bestand darin, dass glasscheibenähnliches Dünneis nach und nach kleine Löcher in die (Fell)Haut des Kajaks scheuern konnte. Die einzige Möglichkeit zur Rettung war rasch an Land oder auf einen großen Eisblock zu kommen. Vorläufig ließ sich eine solche Perforation mit Hilfe von Speck abdichten. Eines Tages sendete Hoygaard eine Schachtel Primulakäse (einer der ersten haltbaren Käse) an einen Kollegen durch einen Kajakfahrer, der zufällig zu Besuch kam. Auf der nächtlichen Heimfahrt scheuerte sich dieser sein Boot im Dünneis leck. Mit knapper Not rettete er sich in der Dunkelheit auf eine Eisscholle, die gerade so sein Gewicht trug. Lange grübelte er darüber nach, wie er sein Leben erhalten könnte. Speck hatte er nicht dabei. Schließlich fiel ihm der Käse ein, mit dem er die Perforierung abdichten konnte. Der Kollege wird’s bestimmt verziehen haben. 

Sport und Training für den Ernstfall 

Da ist es verständlich, dass die Väter ihre Kinder früh in die Kunst des Kajakfahrens unterwiesen. Nicht nur um das Kind vor dem Ertrinken zu bewahren, sondern auch, um die Versorgung der Siedlung zu sichern. An dieser Stelle sei angemerkt, dass zu dieser Zeit das Kajakfahren offensichtlich eine reine Männerdomäne war. Logisch, denn die Jagd war von jeher Männersache. Hoygaard berichtet lediglich von dem „Umiak“, einem relativ großen Frauenboot, ähnlich heutiger Mannschaftscanadier. 

Dass der „Ernstfall“ trainiert werden musste, liegt auf der Hand. Und das konnte offensichtlich auch Spaß im sportlichen Sinne machen: „Mit ihren kleinen Fahrzeugen vollführen die Eskimos oft die kühnsten Kunststücke. Ein sehr beliebter Sport ist es, sich einen besonders hohen Wogenkamm auszusuchen und auf dessen Spitze quer durch die Brandung zu reiten. Für uns Europäer sieht das aus wie der helle Wahnsinn. Aber es ging immer gut aus. Sie waren in ihrem Element.“ Europäer bestiegen übrigens nur selten ein Kajak. Eine Ausnahme war zu dieser Zeit der englische Polarforscher Gino Watkins. Er erlernte ebenfalls die Kunst des „Kajakruderns“ und die Inuit bescheinigten ihm, dass er „genau so tüchtig gewesen sei, wie sie selbst“. Doch auch er verunglückte und ertrank vor der Küste von Angmagssalik. Ein Grund, weshalb Hoygaard (mit Ausnahme des Umiak) nie ein Kajak bestieg.

Wo ist das Vitamin C?

Hoygaard bestimmt in Tang und Muscheln ausreichende Mengen an Vitamin C. Eine Ernährung, die den Europäern fremd war und die sie wohl auch nicht so ohne weiteres vertrugen. Das Problem der Mangelerkrankung wurde aber bereits 1934 mit dem Beginn der industriellen Herstellung von Ascorbinsäure (Antiskorbut-Vitamin) weitestgehend gelöst. Der Begriff geht auf den Biochemiker Casimir Funk zurück. Der setzte 1912 aus Vita (Leben) und Amin (Aminogruppe) das Kunstwort „Vitamin“ zusammen. Allerdings sind im Vitamin C keine chemischen Aminogruppen enthalten, weshalb es sich genau genommen nicht um ein Vitamin handelt. Trotzdem sprechen wir bis heute vom Vitamin C.

Zum Schluss das Ende der Jägergesellschaft

Vor dem Hintergrund des Klimawandels wirkt der Erfahrungsbericht des Arztes Arne Hoygaard wie ein Blick in eine längst verschwundene Welt. Dabei ist seine Dokumentation gerade mal 75 Jahre alt, also praktisch nur ein „Generationenblick“.

Heute würde Hoygaard sein Grönland wohl kaum Wiedererkennen. Die Insel ist sichtlich grüner, das Eis verschwindet mit zunehmender Geschwindigkeit, Fischfang und Jagd sind keine Perspektive mehr. Die Kajaks sind genau wie die Schlittenhunde nur noch Hobby. Heute sind viele Inuit arbeitslos und leben von der Sozialhilfe. Alkoholismus ist ein großes Problem. 

Übrigens: Das Wort Inuit bezeichnet nur die kanadischen und grönländischen Volksgruppen. Die Bezeichnung „Eskimo“ ist vermutlich eine ursprünglich indianische Sammelbezeichnung für die indigenen Völker im nördlichen Polargebiet. Genau ist dies allerdings nicht belegt. Es handelt sich bei dem Wort Eskimo wohl aber nicht, wie oft angenommen, um eine Diskriminierung zum „Rohfleischfresser“. 


Von Thorsten Funk

 

Quellen:
[1] Arne Hoygaard: im Treibeisgürtel: ein Jahr als Arzt unter Eskimos, 5. Auflage, Braunschweig, Georg Westermann Verlag 1949. Titel der norwegischen Ausgabe: Innenfor drivisen – Et ar som laege blandt eskimoer (Gyldendal, 1937).
[2] Vitamin C sources in eskimo food, i Nature 143:943-943 (Juni, 1939). Med Harald Waage Rasmussen.

Bildnachweis/Bildzitat:
Aufnahme 1: Hoygaard (1949), „Groß ist die Liebe der Eltern zu ihren Kindern“, S. 96-97.
Aufnahme 2: Arne Hoygaard (1949), „Portrait“, S. 3.
 

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