Von Helmut Paul
"Rentner verbringen ihren Lebensabend in Florida! Wir wollen dazugehören. |
Draußen lag der Schnee in hohen Haufen am Straßenrand. Wir Kinder bauten Schneehöhlen bis der schmerzende Kitzel in den Fingern uns Einhalt gebot. Wir rodelten in der Dresdener Heide über Huckelbahn und Todeskurve an der Mordgrundbrücke. Großmutter war Neunzig und fast blind, sie hatte sich im Sommer den Oberschenkelhals gebrochen. Nun fesselte der Winter sie an den Ofen. Für mich war der Winter eine schöne Zeit und den Duft der am Ofen trocknenden Wollsachen habe ich noch heute in Erinnerung.
...und meine Einstellung zum Winter nähert sich mit den Jahren der Ansicht meiner Großmutter. Nicht nur meine Meinung hat sich geändert, auch die Winter sind nicht mehr das, was sie früher einmal waren. Die heute übliche nasskalte Witterung ist meinen schmerzenden Gliedern unzuträglicher als sonnige Kälte. Man kann Monate lang nicht tun, was man am liebsten täte. Selbst das Bummeln durch die Städte wird mir durch Wind und Regen verleidet, auf einer Bank in der Sonne zu sitzen, bleibt ein Traum und die Zentralheizung ist ein zum Rückenwärmen untauglicher Ofen-Ersatz.
Auch andere Dinge haben sich geändert. Großmutter bekam 95 Mark Rente. Da war schon ein dauerhaft warmer Ofen Luxus. Reisen in warme Gefilde lagen außerhalb jeder Vorstellung. Es sei denn, man kam nach Afrika oder Kreta mit den Fallschirmjägern. Großmutters größte Reisen waren Familienbesuche im Erzgebirge oder in der Lausitz geblieben und selbst meine reiselustige Mutter kam erst im hohen Alter über die Grenzen Deutschlands hinaus, das allerdings in ihrer Jugend viel größer war. In welch herrlichen Zeiten leben wir!
Sonnunguntergangsstimmung. |
....ist für mich aber noch immer unvorstellbar. Nicht nur des lieben Geldes wegen, das man dazu benötigt und das sich auf meinem Konto durchaus nicht in der benötigten Quantität ansammeln will, sondern auch aus dem Grunde, dass ich in einer der schönsten Gegenden dieser Welt, in der Sächsischen Schweiz, zu Hause bin. Schöner kann es nirgends sein! – Wohl aber wärmer!
Wir sind schon einige Male dem Winter entflohen. Wir kennen die wärmeren Gegenden schon von A-gadir bis Z-ypern. Wir stellen immer wieder fest: zu Hause ist es doch am schönsten! – Aber woanders ist es wärmer.
Und dann gibt es die Ganz-Reichen und den kleinen Neid. Die Ganz-Reichen verbringen den Winter in Florida. Im Sunshine-State. Ist das wirklich nur für die Ganz-Reichen?
Lidl bietet eine Reise an, nach Florida. Für Tausend-und-Einen Euro. Für Flug, 7 Nächte Hotel und vierzehn Tage Mietwagen. Lidl ist günstig, auch für Florida! Das ist wie das Märchen von Tausend-und-einer-Nacht.
Rentner verbringen ihren Lebensabend in Florida! Wir wollen dazugehören. Wir sind dabei. Wir sind Rentner.
Das ist erstaunlich. Es ist warm und es gibt Wasser aller Art und Dschungel soweit wir blicken, aber – keine Mücken. Wir beschweren uns nicht.
Wir haben uns auf die Plagegeister nicht vorbereitet, wir tragen unsere Haut offen zu Markte. Wir wären den Stichen schutzlos ausgeliefert. Ich hatte vorgesehen, dass wir uns am Ort mit den besten Mitteln versorgen. Wo es das Ungeziefer gibt, dort hat man auch die Gegenmittel. Nun gibt es kein Ungeziefer! Fast bin ich enttäuscht, doch es ist angenehm. Vielleicht gibt es im Januar die Blutsauger noch nicht? Vielleicht sind sie noch nicht ausgebrütet? Das wäre wunderbar. Vielleicht hat man sie hier ausgerottet? Das wäre mir sehr angenehm. In anderer Sichtweise wäre es völlig ungesetzlich, denn wir sind im Nationalpark der Everglades und in einem Nationalpark steht – außer den Menschen, die sich freiwillig zu Blutspendern für die Plagegeister machen – jede Kreatur unter Schutz. Also auch die Mücken! Sie werden gebraucht für das ökologische Gleichgewicht. In den Nationalparks ist den Besuchern das Töten jedweder frei lebender Kreatur verboten. Darf man hier die Moskitos erschlagen? Man darf im Nationalpark kein Lebewesen füttern. Es sind drakonische Strafen angedroht, wenn man die Alligatoren füttert. 5 000 Dollar! Was ist, wenn mir der Alligator beim Baden das Bein abfrisst? Habe ich ihn dann gefüttert? Wir sind der Frage enthoben: Baden ist verboten!
Ich bin unsicher, darf ich zulassen, dass ein Moskito sich an meinem Körper mit Blut vollsaugt. Zählt das als Verstoß gegen das Fütterungsverbot? Wir sind der Frage enthoben: es gibt keine Mücken.
Pelikane. |
– welch verlockender Name. Ein Irrgarten von Wasserwegen und Mangroveninseln. Mangroven! Auch etwas, was wir noch nie gesehen haben und auch wieder ganz anders, als wir es uns vorgestellt haben. Ich hatte an hohe Bäume gedacht mit mächtigen Stützwurzeln, eine Waldmauer als Ufersaum. Undurchdringlich. Es ist ganz anders. Keine Waldmauer. Ein Saum von Stelzenbüschen. Undurchdringlich überall dort, wo kein Wasserarm die Vegetation teilt. Niedriger Buschwald, ein Geflecht von Stelzen in unterschiedlicher Höhe. Unpassierbar an jeder Stelle.
Und dann stellen wir fest: es gibt hier nur sehr wenige Tiere. Liegt es am Fütterungsverbot oder am mangelnden Grundnahrungsmittel? Fehlen die Mücken? Es gibt keine Insekten, also gibt es keine Singvögel. Keine Singvögel – keine Raubvögel, keine Mückenlarven – keine Friedfische, keine Friedfische – keine Raubfische, keine Reiher und am Ende der Nahrungskette keine Alligatoren! Eine Kette ohne Glieder?
In den Wasserlachen der Besucherzentren liegen die Alligatoren übereinander! Schildkröten schwimmen im klaren Wasser und Fische. Schlangenhälse, Reiher, Ibisse, Eisvögel, der Osprey, der Waldstorch – alle möglichen Vögel sahen wir unmittelbar am 200 Meter langen amerikanischen Holzplanken-Wanderweg, gleich neben den Parkplätzen und Gebäuden des Nationalparkzentrums. Auf den Masten der Leitungen über der Nationalparkstraße sitzen die Truthahngeier und warten darauf, dass endlich wieder ein Waschbär überfahren wird. Mücken gab es auch dort nicht. Was war hier der Beginn der Nahrungskette. Eine Kette ohne Anfang?
Hier, zwischen den „Zehntausend Inseln“ ist kaum ein Vogel zu erblicken, geschweige denn ein Alligator. Aber eine lebendige Waschbärenfamilie haben wir gesehen. Mich wunderte das nicht, hier fehlte eben die Straße.
Muschelbänke ragen aus dem Wasser, Mangroven siedeln sich an, der ewige Kreislauf von Werden und Vergehen lässt sich deutlich spüren. Wir haben Glück, der Ebbstrom lässt uns Kraft sparen. Kräftig zieht das Wasser unser Boot durch die flachen Passagen. In drei Stunden kommt das Wasser zurück und wir werden wieder zum Land getragen. Das ist eine praktische Einrichtung hier in Amerika. In Europa hatten wir die Gezeiten immer gegen uns! Der Kanal öffnet sich zu einer unübersehbaren Wasserfläche. Der Golf von Mexiko. Ein abgerundeter Klotz schwimmt vorüber. Ein Klotz mit Augen. Er bewegt sich schnell, es ist kein Treibgut. Das Objekt verschwindet im Wasser, taucht wieder auf. Es flieht, viel schneller als wir unser Boot bewegen können.
Eine Meeresschildkröte! Ein großes Tier. Ich hätte sie gern betrachtet. Ich habe noch nie vorher eine so große Schildkröte gesehen.
Eine von Vögeln besetzte Insel ohne Mangroven ragt aus dem Meer. Der letzte Landfleck vor dem Horizont. Welche Freiheit. Wir wollen hier rasten, etwas essen, ein Bier trinken, ohne es verstecken zu müssen – und dann umkehren. Bis Mexiko ist es zu weit für heute. Aber ein gutes Ziel wäre Mexiko auch – dort könnten wir überall ganz offen unser Bier trinken.
In die Luft. Pelikane. Das ist schade und das haben wir nicht gewollt. Das ist sicher auch ein Frevel wider die Nationalparkordnung, aber die Vögel sind noch nicht mit Kameras ausgerüstet und andere potentielle Kläger sind ringsum nicht zu sehen. Nun haben wir die Insel für uns allein. Eine Insel in der Karibik! Unglaublich! So stellt sich mancher sein Rentner-Paradies vor!
Die Vögel sind Brown-Pelikane. Die kleinste Art der Familie. Sie fischen nicht wie ihre Verwandten gemeinschaftlich mit einem Kesseltreiben. Brown-Pelikane fischen mit einem Sturzflug aus der Luft und können, anders als die größeren Arten, direkt aus dem Wasser zum Flug starten. Drollig sehen alle Pelikane aus. Mit ihrem überdimensionierten Schnabel, wenn sie im Flug den Kopf zur Seite neigen, um dem aufschauenden Publikum unter ihnen mit einem Auge zuzuzwinkern. Ich mag Pelikane.
Zum Baden ist der Golf von Mexiko um unsere Insel nicht geeignet. Das Wasser ist flach, der Grund ist schlammig und im Schlamm stecken scharfe Muschelschalen. Irgendetwas ist immer kritikwürdig. Nie ist alles so, wie man es haben möchte. Ich habe das auch anderenorts beobachtet. Deshalb buchen die Leute Hotels am Meer und baden dann im Swimming-Pool.
Alligator in den Everglades in Florida. |
Baden können wir nicht. Die Sonne brennt, wir sehnen uns nach Schatten. Die Pelikane sind geflohen. Das Bier ist ausgetrunken. Was sollen wir noch hier?
Die Flut strömt in der richtigen Richtung. Zurück, Richtung Festland. Wir müssen zurück durch die Zehntausend Inseln nach Everglades City, alles andere ist zu weit. Mexiko haben wir nicht einmal gesehen. Am Ende haben wir zweimal zehntausend Inseln durchquert! Da können die Rentner auf den Kreuzfahrtschiffen um den ganzen Globus fahren – zwei mal zehntausend Inseln sehen sie nie. Wir erleben das auf der Lidl-Reise an einem Tag. Lidl ist wirklich günstig!
Wenige hundert Meter vor dem Bootshafen zerschneidet etwas schwarzes, spitzes das Wasser. Ein schwarzes Dreieck! Nicht weit vor uns schnauft ein runder glänzender Buckel – ein Delfin! Ach ist das schön. Und noch einer! Mele hat sie auch gesehen. Dann sehen wir gleichzeitig drei nebeneinander an anderer Stelle. Vermutlich sind es fünf. Leider sind sie einige Meter voraus. Wir möchten sie richtig sehen. Sie schwimmen schnell. Wir haben keinen Motor, keine Schraube, wir sind keine Gefahr für sie. Die Tiere wissen nicht, dass wir sie sehen möchten und nur langsam vorankommen. Sie nehmen Reißaus, wir können ihnen nicht folgen.
– Auch hier im Nationalpark! – Die Delfine werden sich hüten, einem Boot nahe zu kommen. Weiter im Norden, bei Fort Myers, kann man Seekühe sehen, die auf ihren Rücken eindrucksvolle Narbenmuster tragen. Überall an den Kanälen stehen Warnschilder. Slowly! Manatee Area! Wenn ein Motorboot 5 Meilen in der Stunde fährt, dreht sich die Schiffsschraube sicher weniger als 1000 mal in der Minute. Für die Ein-Strich-Kein-Strich Musterung der Seekühe reicht es immer noch. Vielleicht können die zuständigen Manatee-Schützer am Abstand der Narbenstriche die Drehzahl der Schiffsschrauben errechnen?
Man kann sie verstehen. Es ist die Elite der Nation. Bei uns fahren sie Manta oder Porsche. Sie könnten es sich auch leisten Alligatoren zu füttern. Wenn man diese starken jungen Männer sieht, wie sie kraftvoll, stolz erhobenen Hauptes mit fliegenden Haaren ihre Boote steuern, kann man sich als Nicht-Englischsprachiger gar nicht erklären, was dieses Wort SLOWLY heißt und sagen lassen kann man es sich von ihnen auch nicht, das Tempo und die dröhnenden Motoren verhindern es. Man kann die starken Männer nicht verstehen.
Es gibt einen Wilderness-Waterway zwischen der Örtlichkeit Flamingo und Everglades-City mit einer Länge von 99 Meilen. Diesen Wasserweg darf man auch mit Motorbooten nutzen. Als benötigte Zeit wird, wenn ich es richtig übersetzt habe, angegeben: ein bis zehn Tage. Ich lese das mit Erstaunen im Reiseführer. Ich stelle mir 99 Meilen an einem Tag auf dem Wasserweg einigermaßen unslowly vor.
...lieben Süßwasser – hier bringen die Gezeiten das Salzwasser in die Lagunen. Deshalb sind die Alligatoren zwischen den Zehntausend Inseln abwesend. Wir haben neben der Straße 41 einen großen Alligator liegen sehen, einfach so, ohne Zaun oder Seil um den Hals – gut vier Meter lang. Einmal ein solches Monster vom Boot aus zu sehen wäre interessant. Man könnte ihm den Rücken tätscheln und damit ein wenig protzen. Eben so, wie wir starken Männer es gern tun.
Aber ehrlich gesagt fehlten mir die Alligatoren auf unserer Bootstour durch die Mangroven genau so wenig wie die Motorboot.
KANU-SPORT 12/2016 |