Seine erste Vortragstour hat Obsommer 2002 mit dem Grand
Canyon of the Stikine gestartet. 12 Jahre später war er erneut
am »Mount Everest des Wildwassers«, wie der Stikine auch
genannt wird. Drei Tage dauert der Ritt durch die 70 Kilometer
lange Schlucht. Bis zu 300 Meter ragen die Wände senkrecht in
die Höhe. Doch in den insgesamt 100 Stromschnellen sollte man
den Blick besser geradeaus richten: Im fünften bis sechsten
Schwierigkeitsgrad bleibt kein Raum für Fehler. Für manch einen
Paddler ist die Befahrung des Stikine ein Blick in die eigene
Seele und der reinen Wahrheit.
Die Fakten:
Stecke: 70km WW 5-6, 30km WW 3, 3 lange harteTage
Einstieg: Stewart Cassier Highway
Ausstieg: Telegraph Creek
Shuttle: 180km, 6hrs
Wasser: 150-500 Kubik, je mehr Wasser desto schwieriger ist
das Besichtigen der Stromschnellen.
Gefälle: In den Steilstücken 20-30 Promille,
Befahrbarkeit: September bei Niederwasser.
Besonderheiten: Zwangspassagen à la „Wassens Hole“,
Uneinsehbare Katerakte
Gefahren: Schwimmen, „V-drive“ kann bei hohen Wasserständen
nur durch abseilen umtragen werden.
Boote: >250cm, > 280 Liter Volumen.
Das Team:
Jared Meehan NZL
Sam Sutton NZL
Darin Mcqoid USA
Gerd Serrasolses ESP
Aniol Serrsolses ESP
Olaf Obsommer GER
Der Mount Everest des alpinen
Kajaksports.
Die große Schlucht des Stikine im Norden Kanadas markiert den
Gipfel dessen, was beim Expeditionspaddeln möglich ist: 60
Kilometer lang, 350 Kubik voll, 460 Meter steil und garniert
mit 30 ausgewachsenen Rapids, viele davon Zwangspassagen.
Die Klamm mit wuchtigen Zwangspassagen, uneinsehbaren
Biegungen und allen weiteren Zutaten eines 500 Kubik wuchtigen
Marlstroms inszenieren einen Thriller der Extraklasse. Der
Schauplatz ist Kanadas Wildnis unter Grizzlies, Wölfen und
Bergziegen; es ist eines der großartigsten Naturschauspiele die
man mit dem Boot erforschen kann. Nicht umsonst gilt der
Stikine als einer der härtesten aber auch einer der schönsten
Wildwassertrips der Erde. Er wird als Mount Everest des alpinen
Kajaksports betitelt.
Der Fluss.
Der Stikine River fließt im nördlichen British Columbia,
an der Grenze zum Yukon Territory. Er entwässert das Spatzisi
Plateau und fließt 640KM durch kanadische Wildnis, bevor er bei
Wrangell in den Golf von Alaska mündet. Der 90km lange »Grand
Canyon of the Stikine« im Mittellauf, gilt als schwerster
Mehrtages-Wildwssertrip der Welt. Selbst zur Hochsaison ist man
als Paddler auf der gesamten Strecke so gut wie allein. Kein
Mensch, kein Haus, kein Lärm stören die Ruhe, während man vom
Wasser im Expresstempo durch alle Formen nordischer Wildnis
getragen wird.
Doch wir sind nicht allein an der Natur interessiert. Uns
reizt die sportliche Meisterleistung den Grand Canyon zu
befahren.
Das halbe Jahr über führt der Stikine, dessen Einzugsgebiet in
etwa die Größe Nordbayerns hat, zuviel Wasser für eine
Befahrung. Das andere halbe Jahr präsentiert sich der Stikine
zwar mit deutlich weniger Wasser – aber leider zugefroren. Nur
zu Beginn des Herbstes, wenn die Schmelzwasser abgeflossen
sind, öffnet sich ein schmales Zeitfenster, bei dem die
Wassermenge unter die magische Marke von 500 Kubikmetern pro
Sekunde fällt. Die meisten Befahrungen des Stikine gehen daher
auf das Konto von »Locals« aus den nur 1500 Kilometer
entfernten US-Bundesstaaten Idaho und Montana, die das
entsprechende Wetter- und Pegelfenster nur abwarten brauchten,
um nach einer dreißigstündigen Marathonfahrt am Einstieg
aufzukreuzen.
Los geht es.
Die Brücke des Highways 37, die einzige Brücke über den
Stikine auf seiner gesamten Strecke, verschwindet rasch am
Horizont. Auf den ersten sechs Kilometern zieht der Stikine in
einem offenen Kiesbett schnell dahin, von einer Schlucht keine
Spur.
Von null auf hundert in drei Sekunden.
Wenig später wird der vermeintlich friedliche Stikine zu
Tourenpaddlers Alptraum und legitimiert die Warnschilder am
Einstieg: »Unnavigable by all crafts«. Völlig unvermittelt
verschluckt ein riesiger Felsschlund, der sich auch als
Filmkulisse in »Herr der Ringe« gut gemacht hätte, den Fluss.
Völlig friedlich strömt das Wasser hinein und gaukelt nach dazu
das Vorhandensein diverser Kehrwasser vor. Doch wir wissen,
dass man diesem Frieden nicht trauen darf. Direkt ums Eck
lauert »Entry Falls« zwischen senkrechten Wänden, eine der
schwersten Stellen des Stikine überhaupt. Aber wir haben unsere
Hausaufgaben gemacht und den einleitenden Satz einer
Filmdokumentation noch im Ohr: »Der Fluss lockt dich mit seiner
Schönheit, betört dich mit seiner Grazie – und tötet dich mit
seiner Kraft.«
Darin Mcqoid unser Fotograf und ich klettern weit oberhalb aus
dem Boot und kraxeln durchs Unterholz bis zum Schluchtrand, um
die Fälle zu besichtigen. Von hoch oben fällt der Blick auf ein
donnerndes Chaos aus Fels und Wasser. Wir bringen uns in
Position und schalten die Kameras an.
Sam, Gerd, Jared und Aniol sind am Fluss geblieben müssen als
erste fahren. Als sie eine Stunde später oberhalb der Fälle
auftauchen, sind wir erschrocken über die Dimensionen. Ihre
Kajaks machen sich wie Spielzeugboote in den gewaltigen
Wassermassen aus. Schon die vermeintlich kleine Eingangswelle
schlägt meterhoch über ihnen zusammen. Sie schaufeln wie die
Duracell-Hasen, um dem Ideal von einer Befahrungslinie nahe zu
kommen und schaffen den nötigen Zickzackkurs ins erste
Kehrwasser unterhalb. Aniol sein Kajak wird von einer
Wasserwalze gepackt und kurzerhand überschlägt er sich
unfreiwillig. Eins ist klar, der Stikine ist kein
Kindergeburtstag und wer unvorbereitet antritt, wird in die
Abgründe seiner Seele schauen.
Die meisten Stellen im Canyon sind Zwangspassagen – umtragen
unmöglich. Zu dieser Kategorie gehört aus »Wassons Hole«, ein
apokalyptischer Rücklauf am Ende des ersten Tages, in dem John
Wasson beim Erstbefahrungsversuch um sein Leben rotierte. Rund
150 Meter oberhalb steigen wir im letztmöglichen Kehrwasser aus
und klettern so hoch es geht, um einen Blick auf Wassons zu
werfen. Wir erkennen eine Engstelle mit ordentlich Gefälle,
mächtige Diagonalen mittendrin und eine riesige Walze links an
der Wand zum Finale. Die Wahl der Route fällt somit leicht:
Mitte-Rechts. Jetzt ist Zwangspassagen-Taktik gefragt: Sobald
die Fahrtroute steht, wird aufkeimende Angst durch rasches
Handeln bekämpft. Mit einem Herzklopfen, dessen Echo man
eigentlich zwischen den Felswänden hören müsste, steigen wir in
die Boote und nehmen Kurs auf Mitte-Rechts. Erst jetzt bemerken
wir, dass die gesamte Anfahrt eine schiefe Ebene darstellt, die
nach links kippt – direkt ins Loch. Unter Aufbietung aller
Kräfte schaffen wir es gerade so bis zur Flussmitte und nur
knapp rauschen wir allesamt an der tückischen Wasserwand
vorbei. Im Augenwinkel sehen wir dabei die größte Walze
unseres Lebens.
Das Restrisiko fährt mit.
Wenig später landen wir oberhalb des unfahrbaren Katarakt
»Site Zed« an. Er ist zugleich erstes mögliches Nachtlager mit
ein paar ebenen Quadratmetern für unser Zelt. Den Rest des
Abends sitzen wir am Feuer, trocknen Paddelklamotten, futtern
Instantnudeln und verarbeiten die Erlebnisse des ersten
Tages.
Größtes Kopfzerbrechen bereiten oft nicht einmal die Rapids
selbst, sondern die Kraft des Wassers im vermeintlich ruhigen
Pool dahinter. Oft tun sich dort hinterlistige Presswässer auf,
die einen eventuellen Schwimmer wohl auf ewig verschlucken
würden. Was also, wenn einem beim Durchfahren einer Walze das
Paddel bricht oder ganz banal die Spritzdecke aufgeht? Zwar
haben wir diese Eventualitäten durch sorgfältige Materialtests
im Vorfeld minimiert, doch ein Restrisiko mit der Konsequenz
»Wer schwimmt, ertrinkt«, bleibt. 2012 hat der Stikine sein
erstes Todesopfer gefordert! Solange alles nach Plan läuft und
gut geht, kein Problem. Nur ein kleiner Fehler kann den Ball
ins rollen bringen und das Abenteuer Stikine in eine
Katastrophe gipfeln.
Site Zed.
Tag 2 startet mit einer schweißtreibenden Portage. Zwei
Stunden lang schleppen wir unsere Kajaks durch ein Kartenhaus
überdimensionierter Felsmurmeln an »Site Zed« vorbei. Mit den
30 Kilo schweren Kajaks auf der Schulter will jeder Schritt
wohl überlegt sein.
Gerd entscheidet sich Site Zed zu befahren, Jared, Darin und
ich bringen die Kameras in Position. Sam und Aniol übernehmen
im Auslauf der gewaltigen Stromschnelle die Absicherung
Wie immer bei schweren Stellen werden Angst und Panik sofort
auf Standby heruntergefahren. Dieser antrainierte Modus lässt
uns die Paddelschläge dort setzen, wo sie hingehören, woraus
ein kraftschonender Paddelstil resultiert. Wer weiß, vielleicht
brauchen wir unseren Atem ja noch für die flussbreite
Abschlusswalze.
Gerd beherrscht diese Philosophie perfekt und steuert sein
Kajak fast schon mit Leichtigkeit durch die 250m lange
Stromschnelle Site Zed. Nur zweimal verliert er kurzzeitig die
Kontrolle über sein Kajak und muss eskimotieren. Damit gelingt
Gerd die Zweitbefahrung, letztes Jahr wurde Site Zed von Ben
Marr erstbefahren, davor hatte sich noch nie ein Kajaker
gewagt, diese mächtige Stromschnelle aus Verwirbelungen und
Wasserwalzen zu meistern.
The Wall.
Ein weitere mächtige Stromschnelle ist "The Wall". Nach einer
ausführlichen Besichtigung, die wenig Aufklärung und Sicherheit
bietet, steigen wir wieder in unsere Kajaks. Zunächst gilt es
mit viel Speed nach links zu schneiden, um der angespülten
»Wall« zu entkommen. Dann folgt die zweite Kante. Die Walzen
links und rechts vermeidend, treffen alle den vermuteten
Durchschlupf in Flussmitte. Nun folgt die große Unbekannte.
Wird der Stikine sich nach der Kurve beruhigen, oder tobt er
weiter? An einer letzten Walze vorbei, biegen wir ums Eck – und
sind durch. Die Schlucht öffnet sich, vor uns liegt der »Garden
of the Gods« im goldenen Abendlicht. Dieser kurze
Schluchtabschnitt bietet faires Wildwasser der Extraklasse mit
vielen Ausweichrouten am Rand des Gebrodels.
Kurz danach erreichen wir Camp 2, ein traumhafter Sandstrand
erwartet uns. Schnell ist ein Feuer entfacht und wir genießen
die Ruhe und die Lagerfeueratmosphäre. Kurzer Hand überkommt
uns die Müdigkeit und wir gönnen uns eine ordentliche Portion
Schlaft, denn am letzten Tag auf dem Stikine benötigen wir all
unsere Kraft und Konzentration. Morgen erwarten uns die Lower
Narrows mit den schwierigsten und gefährlichsten Stromschnellen
wie z.B. Wall 2, The Hole that eats Chicago oder W-Drive.
W Drive.
Die Sonne weckt uns auf und ruck zuck sitzen wir alle wieder
in unseren Kajaks. Die Qualität der Stromschnellen ist
überragend. Schwierige und spektakuläre Linien fordern uns.
Plötzlich stehen wir alle vor W Drive. Die schwierigste
Stromschnelle auf dem Stikine nach Site Zed. Ein wuchtige
Zwangspasssage mit 2 riesen Wasserwalzen, die uns quasi für
mehrere Sekunden verschlucken, jetzt bloß nicht die Nerven
verlieren und aussteigen. Nach langer Dunkelheit wird es wieder
hell und Zeit das Kajak mit der Eskimorrolle aufzurichten. Sam
zaubert als einziger eine saubere Linie durch die Turbolenzen,
die sogenannte SICK LINE.
Der Tanzilla Slot.
Neunzig Prozent der Schwierigkeiten liegen nun hinter uns.
Doch gilt am Stikine die alte Fußballweisheit: Nach der
Kernstelle ist vor der Kernstelle.
Mit dem »Tanzilla Slot« wartet noch eine letzte geologische
Sensation auf uns. Dort pressen sich mehrere hundert Kubik
durch einen nur drei Meter breiten Felsspalt aus blankpolierten
Basalt. Wir erinnern uns an die Story von Scott Lindgren, der
bei den Dreharbeiten zu seinem Film »Aerated« von einem
Hochwasser im Canyon überrascht wurde. Vor dem dritten Tag
verdoppelte sich der Wasserstand von 300 auf 600 Kubik. Dadurch
staute sich das Wasser derart vor dem Schlitz, so dass sie drei
Anläufe brauchten, um den Berg aus Wasser davor zu
überwinden.
Bei unserem Wasserstand ist der Tanzilla Slot allerdings keine
große Herausforderung und uns bleibt genügend Zeit dieses
Naturschauspiel zu genießen.
Fazit.
Der Stikine hat einem wirklich den Spiegel vorgehalten. Was
wir darin gesehen haben, war nicht immer schön, aber sehr
lehrreich.
Bis zum Ausstieg in Telegraph Creek sind es noch gut 30
Kilometer leichtes Wildwasser, doch das sollten wir bis zum
Einbruch der Dunkelheit schaffen. Im Abendlicht genießen wir
den Stikine endlich ohne Angstschweiß auf der Stirn und in den
folgenden zwei Stunden nutzt zudem jeder die Gelegenheit, die
gestern Nacht gefassten guten Vorsätze für den Fall des
Überlebens auf Realisierbarkeit zu überprüfen. Von geregelter
Arbeit war da die Rede, sofortige Heirat der Freundin nach der
Rückkehr, Weihnachten bei den Eltern und die Reduzierung
künftiger Wildflüsse auf den Augsburger Eiskanal.
Na ja, nicht wirklich, die Suche nach dem Flussgott wird
weiter gehen…
Der TV-Beitrag in der
ZDF-Sportreportage
Text: Olaf Obsommer & Michael Neumann