10. November 2022

“A Pain in the Butt”, das Piriformis Syndrom

Eine Pause beim Seekajakfahren wird genutzt, um sich zu drehen, die Beine abzuspreizen oder einfach mal hängen zu lassen. (Foto: Bernd Kirchhof)

Anika macht Dehnungsübungen: Im Liegestütz zieht sie ein Bein unter den Körper. Der Unterschenkel ist dabei zur Gegenseite abgewinkelt. Warum macht Anika das? Sie hat nach längerem Paddeln Schmerzen im Allerwertesten. Die Schmerzen beginnen nach cirka zwei Stunden ohne Pause. Besonders dann, wenn sie mit ihrem Rennkajak unterwegs ist. Das sei der „Piriformis“!?

Von Dr. Bernd Kirchhof und Birgit Fischer



Aus der Praxis - Bernd Kirchhof:

„So geht’s mir auch, Anja. Die erste Stunde auf dem Wasser in meinem Sit-on-Top-Kajak merke ich noch nichts. Nach zwei Stunden beginnt ein ziehender, teils krampfartiger tiefer Schmerz im Hinterteil. Ich möchte dann am liebsten kurz aussteigen. Das Problem habe ich dann, wenn ich die Beine ständig eng beieinander und gestreckt halte und meine Hüfte mangels Beckengurtes nicht abstützen kann. Dazu habe ich einen deutlichen Rundrücken.“ Diese Haltung benutzen Orthopäden als Provokationstest für den Piriformis-Schmerz: „Seated Piriformis Stretch Test“¹. Gewöhnung im positiven Sinne tritt nicht ein. Das heißt auf mehrtätigen Wanderfahrten setzen die Schmerzen am Folgetag eher früher als später ein. Im Unterschied dazu sitze ich in meinem geräumigen Sit-in Kajak (Aleut II von Valley) stundenlang beschwerdefrei. Ich kann meine Sitzposition ändern und die Beine am Stemmblock vorbei ausstrecken. Die meiste Zeit spreize ich die Oberschenkel aber für die Schenkelstütze. Aus den beiden verschiedenen Erfahrungen schließe ich, dass Körperhaltung und Beinfreiheit den Unterschied machen. Sitzpolsterung hilft, kann das Problem allein, aber nicht zuverlässig beseitigen.“


Aus der Praxis - Birgit Fischer:

Die auf dem Stemmbrett fixierte und eng nebeneinander geführte Beinhaltung ist für Training und Wettkampf optimiert. Üblicherweise kurze Sitzzeiten im Vergleich zu Wanderfahrten lassen keine Muskelschmerzen aufkommen. 

Ich kenne Sitzbeschwerden aus eigener Erfahrung nur vom Seekajak, und zwar dann, wenn die Bewegungsfreiheit der Beine einschränkt ist, und ich länger als eine Stunde im Boot sitze. Man muss von vorneherein bequem sitzen. Der Fußraum darf nicht zu eng sein. Es muss möglich sein, die Beine am Stemmbrett vorbei auszustrecken. Im Rennkajak kommt es auf die maximale Geschwindigkeit an, deshalb ist man in diesen schmalen Booten mit den Füßen fest am Stemmbrett fixiert, um so die maximale Kraftübertragung aufs Paddel zu gewährleisten (Abbildung 1). Da ich im Rennkajak nie länger als 60 min im Training verweile, treten bei mir keine Beschwerden auf. Allerdings habe ich Sitz und Stemmbrett für mich individuell angepasst. Ich lege Wert auf eine gut trainierte Rückenmuskulatur² und eine, durch den Sitz unterstützte, Streckung der Lendenwirbelsäule. Eine Erhöhung des Sitzes über den Bootsboden, so weit wie es das Boot und die eigene Stabilität zulässt ist für mich wichtig. Auch, dass der Sitz hinten höher ist als vorne, ist mir in allen meinen Booten wichtig. So kann man den Bein-Rumpfwinkel weit genug öffnen. Pausen an Land und auch Dehnungs- und Streckübungen im Boot sind für mich immer noch das beste Mittel gegen aufkommende Schmerzen durch Fehlhaltungen.

 

   


Weitere Varianten in der Praxis

  • Bei Ulrich tritt das Problem nur einseitig auf, dafür zieht der Schmerz bis in den Unterschenkel (Ischias-Syndrom). Er fährt ein Renn-Ruderboot auf Strecke.
  • Bei Helga setzen die Schmerzen im Kajak ebenfalls nach 1-2 Stunden ein. Allerdings, wenn sie angestrengt paddelt erst später (mehr Abwechslung in der Körperhaltung?).  

 

Piriformis Syndrom: was ist das?

Der Name bezeichnet einen birnenförmigen Muskel in der tiefen Hüft- oder Gesäßmuskulatur (lateinisch „Pirum“, Birne). Er entspringt breit am Kreuzbein und zieht mit einer langen Sehne nach vorne und zur Seite zum großen Femurhügel (Trochanter major) des Oberschenkelknochens (Abbildung 2). Die Kontraktion des Musculus piriformis dreht den Oberschenkel nach außen und unterstützt das Abspreizen. Außerdem verstärkt der Muskelzug die Lendenlordose (Hohlkreuz).
Das primäre Piriformis-Syndrom beschreibt Schmerzen in der Gesäßmuskulatur im Alltag. Wenn die Schmerzen in das Bein ausstrahlen, wird eine kombinierte Reizung des Ischiasnervs postuliert. Der Ischiasnerv verläuft unter dem oder durch den Muskulus Piriformis.
Für das uns betreffende, nur beim Kajak-Fahren auftretende sekundäre Piriformis Syndrom, wird eine Mikrotraumatisierung des Muskels durch anhaltende statische Dehnung postuliert: „Over-Use Syndrome“³. Grundsätzlich tritt das Piriformis Syndrom bei längerem Sitzen auf (Büro, Taxifahrer). Harte Sitzflächen oder umschriebener Druck auf die Gesäßmuskulatur, z. B. durch eine Geldbörse in der Hecktasche: „Wallet-Syndrome“⁴, verstärken das Problem.

 

Vorbeugung

Die folgenden Maßnahmen sollen bewirken, dass der M. Piriformis entlastet, also dem „Over-Use“ vorgebeugt wird.

  • Der Fußraum sollte weit genug sein, um die Beine bei Bedarf am Stemmbrett vorbei ausstrecken zu können.
  • Die Oberschenkel sollten so viel Bewegungsfreiheit haben, dass sie sowohl zur Schenkelstütze abgespreizt wie auch geschlossen gefahren werden können.
  • Es empfiehlt sich (Trink-) Pausen auf dem Wasser dazu zu nutzen, um die Sitzposition immer mal zu wechseln (Abbildung 3).
  • Es gilt die Hüfte abzustützen, damit das Hohlkreuz gegebenenfalls trotz untrainierter Lendenmuskulatur aufrechterhalten werden kann.
  • Damit uns der Spaß auch in der zweiten Tageshälfte nicht vergeht, sollte bei der Auswahl eines Tourenkajaks der Bequemlichkeit Vorrang vor der Schnelligkeit geben werden.

 

Links

 

  • Anspruch und Überblick: Die Anatomie und Wirkungsweise des Muskels werden auf der Webseite www.flexikon.doccheck.com in einem dreidimensionalen Modell dargestellt.
  • Es gibt noch keine medizinischen Untersuchungen zum Piriformis Syndrom beim Kajak-Sport. Es existieren lediglich vereinzelte Berichte in den einschlägigen Chat-Gruppen. Zwei US-amerikanische Kanu-Fahrer und Physiotherapeuten, Bob Schrubb und Brad Heineck erläutern die Entstehung und Behandlung in einem You-Tube-Video.

 

 

 


Literatur und Bildquellen

  1. Martin HD, Kivlan BR, Palmer IJ, Martin RL.: Diagnostic accuracy of clinical tests for sciatic nerve entrapment in the gluteal region. Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc. 2014; 22: 882-888.
  2. Fekete M, Coach H.: Periodized strength training for sprint Kayaking/canoeing. Strength Cond. 1998; 20: 8-12.
  3. Fishman LM, Dombi GW, Michaelsen Ch, Ringel S, Rozbruch J, Rosner B, Weber C: Piriformis syndrome: diagnosis, treatment, and outcome--a 10-year study. Arch Phys Med Rehabil. 2002 83:295-301.
  4. Siddiq MA, Hossain MS, Uddin MM, Jahan I, Khasru MR, Haider NM, Rasker JJ: Piriformis syndrome: a case series of 31 Bangladeshi people with literature review.; Eur J Orthop Surg Traumatol. 2017; 27:193-203
     

 

 


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