16. Februar 2023

Auf dem Wasser sind alle gleich

Foto: Karin Thomspon (Turngemeinde Würzburg-Heidingsfeld)

Kanuvereine sind vielfältig in ihrer Struktur, ihren Zielen und ihren Aktivitäten. Deshalb stellen wir in loser Folge Kanuvereine und seine Mitglieder in den Fokus. Die Abteilung Kanu der Turngemeinde Würzburg-Heidingsfeld fällt durch eine außerordentlich gelungene Inklusion behinderter Jugendlicher und Erwachsener auf.

Foto: Karin Thomspon (Turngemeinde Würzburg-Heidingsfeld)

Das Besondere an der Abteilung Kanu in der Turngemeinde Würzburg-Heidingsfeld ist, dass für seine Mitglieder das Außergewöhnliche ganz normal ist. Was ist gemeint? Im Jahr 2015 erhielten die Kanuten aus Würzburg den Unterfränkischen Inklusionspreis. Das ist ein Preis, mit dem Maßnahmen, Projekte oder Angebote in Unterfranken besonders ausgezeichnet werden, welche die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Alltag nachhaltig und konkret verbessern oder einen spürbaren Beitrag zu ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft leisten. Seit 2012 schon arbeitet die Abteilung Kanu mit dem Blindeninstitut Würzburg zusammen und integriert Jugendliche mit mehrfachen Behinderungen in das Vereinsleben. Die wichtigste Erkenntnis für die Kanufahrer selber: Auf dem Wasser sind alle gleich.
Noch bedeutsamer als das anteilige Preisgeld von 2.000 EUR ist der Effekt, den die mittlerweile fünf behinderten Mitglieder, davon zwei Jugendliche aus dem Blindenistitut, auf die übrigen 200 Mitglieder der Kanuabteilung haben. „Es sind nur fünf bis sechs Jugendliche und Erwachsene, die über die 2012 gestarteten Kampagne mit dem Blindeninstitut fest bei der TG Würzburg-Heidingsfeld eingestiegen sind. Aber wir spüren deren Anwesenheit sehr deutlich, im positiven Sinne“, erzählt Karin Thompson, Übungsleiterin bei der Abteilung Kanu. „Bei uns gehen alle so unglaublich hilfsbereit und rücksichtsvoll miteinander um. Das tut der gesamten Gemeinschaft sehr gut.“
Dabei war das Vereinsleben der Abteilung Kanu schon immer von einem guten Gemeinschaftsgefühl geprägt. Das Vereinsheim liegt malerisch direkt am Main und man trifft sich hier zwanglos „einfach um da zu sein.“ Viele der Mitglieder, davon etwa ein Viertel Renn- und drei Viertel Breitensportler, sind bereits über die eigenen Eltern in die Abteilung „hineingewachsen“. Von April bis Oktober wird dienstags mit meist um die 40 Teilnehmern gemeinsam gekocht, wer will, paddelt vorher sieben oder acht Kilometer. Das integriert auch die Eltern der meist jugendlichen Rennsportler, die dann gerne dazu kommen. Und die zahlreichen Breitensportler finden zu neuen Ausflugsfahrten zusammen. Dadurch hat die TG Würzburg-Heidingsfeld ein umfangreiches Programm an Wander- und Wildwasserfahrten mit allein rund zwei längeren Vereinsfahrten im Monat auf dem Main oder anderen Flüssen in Deutschland und Europa.


„Der ist anders. Aber joa mei, das ist egal.“

Klingt alles sehr beschaulich. Und doch ist bei der TG Würzburg-Heidingsfeld etwas anders. Das mussten auch erst einmal die (älteren) Mitglieder verkraften. „Einer unserer Paddler  war völlig verunsichert, als zwei Vereinskameraden ihm halfen sein Boot zu tragen. Aber sie redeten kein Wort mit ihm“, erzählt Karin Thomson. Warum? Einer war eben ein Autist, der nicht redet, der andere taub. Das Entspannte ist, sie lacht, wenn sie das erzählt. Und das ist auch gut so. Denn es zeigt: Die behinderten Kanufahrer sind komplett integriert, es gibt keine unnötige Scheu mehr vor dem „Anderssein“. Die „besonderen“ Kanuten packen genauso mit an, wenn es darum geht zu helfen. „Es hat sicher gedauert, aber mittlerweile ist jedem klar: Ja, der ist anders. Aber ‚joa mei‘ das ist egal – der trägt auch mein Boot und hilft mir“, berichtet die 40-Jährige. Über die gelungene Integration wird (endlich) die Behinderung unwichtig. Die Behinderten gehören einfach dazu. Ohne Stempel und ohne, dass sie unbegründet „wie rohe Eier“ angefasst werden. Echte Eingliederung in den Verein eben.

"Als die letzten Hemmungen abfielen, konnten die behinderten Jugendlichen endlich richtig zeigen,
zu was sie fähig sind."

Und das ist gar nicht so kompliziert, wie es für Außenstehende wirken mag. Rüdiger Wolf, der Vater von Karin Thompson, selber lange Jahre Wanderwart und Kanu-Abteilungsleiter in der TGW Heidingsfeld, bis er die „Paddel“ an die jüngere Generation übergab, kam vor vier Jahren mit Christoph Hoffmann, dem Vorsitzenden der Bayrischen Sportjugend und Vorsitzender des Vital-Sportverein Würzburg 1952, ins Gespräch. Beide hatten das Ziel, ein neues Sportangebot für Jugendliche zu schaffen. Daraus entstand unter dem Motto „Förderung der Inklusion im Sinne von Teilhabe an der Gesellschaft im Bereich Freizeit und Sport“ das gemeinsame Ziel, einen weiteren Schritt zum barrierefreien Zusammenleben zu gehen. Man fing mit den Schülern der Berufsschule (Graf-zu Bentheim-Schule) des ortsansässigen Blindeninstituts erst behutsam an und hatte sich auch keine allzu hohen Ziele gesteckt, denn es ging nur darum, über den Sport den Menschen mit Behinderung eine „normale“ Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Im ersten Schritt wurden die mehrfach behinderten Jugendlichen in den geschützten Rahmenbedingungen eines Schwimmbades an das Wasser gewöhnt. Während die behinderten Paddler ihre ersten Paddelschläge übten, erlernten die Sportler aus der TGW Heidingsfeld das Eskimotieren.  „Bei den Übungen teilen sich die Kinder einige Boote und müssen wechselseitig anpacken“, erzählt Karin Thompson. Das heißt auch, Berühren und Anfassen der mehrfach und oft schwer behinderten Jugendlichen. „Das war für mich zwar kein Problem, aber ein Thema“, gibt die Übungsleiterin offen zu, die sich mittlerweile wie alle anderen Übungsleiter des Vereins, die direkt mit den behinderten Sportlern arbeiten, beim Bayerischen Kanu-Verband für die Arbeit mit körperlich behinderten Menschen im Kanusport fortgebildet hat. „Dagegen haben unsere Jugendlichen keine Probleme damit. Sie denken nicht so viel nach wie wir und packen beim Rollentraining einfach zu.“
Damit ist bereits für viele Mitglieder des TG Würzburg-Heidingsfeld die gelebte Integration völlig normal. „Ziel erreicht“, könnte man sagen. Doch dadurch kam das Projekt erst richtig in Fahrt. „Als die letzten Hemmungen abfielen, konnten die behinderten Jugendlichen endlich richtig zeigen, zu was sie fähig sind“, erzählt Karin Thompson. „Wir hatten nie den Plan, die Behinderten im Einer-Kajak Wildwasser fahren zu lassen. Das hätte ich mir nie träumen lassen.“ Aber das Projekt beflügelte. Bereits zum dritten Mal machte die Inklusionsgruppe eine Reise in eine von Würzburgs Partnerstädte. Im Frühjahr wurde auf der Wiesent die Wildwasserstufen 1 und 2 trainiert, Ende August ging es schließlich nach Dundee in Schottland. „Das gegenseitige Vertrauen in der Gruppe war unermesslich“, schwärmt Karin Thompson heute noch von ihren Erfahrungen, die sie bei der einwöchigen Reise als Übungsleiterin machen durfte. „Auf Fotos kann ich nicht erkennen, ob der Paddler eine Behinderung hat, oder nicht. Auf dem Wasser sind alle gleich.“ Ein besonderer Moment: Die 16-Jährige Nadine, die das Down-Syndrom hat, fuhr gemeinsam mit dem „Wildwassercrack“ Lorenz besonders anspruchsvolle Stellen des River Tay nahe Stanley herunter. Sie kentern, aber als sie aus dem Wasser gezogen wurde, lachte sie und nahm ihre Schwimmeinlage mit Humor. Laura, 10 Jahre, die Tochter von Karin Thompson umtrug dagegen eine Stelle, da sie sich hier nicht den Fluss herunter traute. Was natürlich auch nicht schlimm war. Wichtig war, dass hier eben nur die Charaktereigenschaften zählten und nicht die Frage, „behindert oder nicht“.


Paddelsport motiviert zur Selbstständigkeit

Die Inklusionsgruppe beim Training (Foto: Christoph Hoffman)

Natürlich war der Betreuungsaufwand wesentlich größer, aber der Verein erhielt hier Unterstützung vom Bildungsinstitut, das auch eine FSJlerin mitschickte. Christoph Hoffmann hatte dabei ein gutes Händchen von Politik und Wirtschaft Spendengelder einzusammeln, welche die Fahrt für die fünf Behinderten des Blindeninstitutes und vier Vereinsmitglieder ermöglichten. Nicht nur Karin Thompson ist noch heute tief beeindruckt von dem Zusammenhalt in der Gruppe und „wie sie miteinander umgegangen sind.“ Denn es dauert nun einmal (außerhalb des Wassers) alles etwas länger, aber das war egal. Tief berührt ist die 40-Jährige auch, wenn ihr die Eltern erzählen, dass die behinderten Paddler zu Hause „erzählen und nicht mehr aufhören“. Und, wenn sie merkt, welche Tragweite das Projekt Inklusion mittlerweile hat. „Theo, der starke Beeinträchtigungen im Sehvermögen hat und zusätzlich auch stark lernbehindert ist, hat über das Projekt bei uns angefangen zu paddeln“, erzählt Karin Thompson. „Als der Fahrdienst ihn nicht mehr zu unserem Vereinsheim fahren konnte, haben die Eltern des inzwischen 23-Jährigen mit ihm fast ein Jahr geübt, damit er alleine mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zum Vereinsheim kommen kann. Es ist toll zu wissen, dass der Paddelsport diesem Menschen Motivation gegeben hat, sich ein Stück mehr Selbstständigkeit zu erkämpfen.“ Das Paddeln hat in Würzburg mit Erfolg integriert – weit über den Sport hinaus.  

   

Inklusion - Infos und Ansprechpartner beim DKV

Persönlich beim Deutschen Kanu-Verband Ansprechpartner finden, Erfahrungsberichte kennen lernen und Ratschläge zur Umsetzung oder Kontakten vor Ort bekommen.

Deutscher Kanu-Verband e.V.
- Bundesgeschäftsstelle -
Tel. 0203/9 97 59-0
service@kanu.de

Ansprechpartner für Inklusion
Heinz Ehlers
Referent Inklusion Breitensport
E-Mail: inklusion@freizeit-kanu.de
 

 

 


 

 


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KANU-SPORT 12/2016
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