04. März 2022

Der Sprung der Sprünge: von Wildwasser III auf IV

Der perfekte Fluss um seine Grenzen auszuloten: Die obere Rauma in Norwegen bietet anspruchsvolle Einzelstellen, immer mit Pool dahinter, immer nah an der Straße. Alles kann entspannt umtragen werden. Die Strecke ist kurz und kann locker drei oder viermal am Tag gepaddelt werden. (Foto: Christian Zicke)

Zeiten ändern sich – so auch im Wildwassersport. Wer Mensch und Material in den letzen zwanzig Jahren beobachtet hat, der konnte feststellen, dass die Grenzen des Menschenmöglichen verschoben wurden. Doch woran liegt das? Sind die Paddler mutiger geworden? Wohl eher nicht...

Von Christian Zicke, Outdoordirekt

 

Vielmehr wurde auch das Material in den Jahren evolutioniert. Besonders auffällig wird diese Entwicklung, wenn man einen alten Flussführer in die Hände bekommt. Wo heute fortgeschrittene Einsteiger das Boofen trainieren, gab es in den achtziger Jahren schwere Steckunfälle, zum Beispiel in der Pinegg-Stufe der Brandenberger Ache. Die kurzen und voluminösen Kajaks sind nicht nur wendiger, sie tauchen auch weniger tief ins Unterwasser ab und grundsätzlich viel besser auf. Boofen? Genau. Auch die Paddeltechniken haben sich verändert. Wo früher im vier meter langen Kajak der gute alte T-Stil Anwendung fand, wird heute im stummeligen Creeker gebooft und geschanzt bist der Arzt kommt.

Doch obwohl heutzutage viel schwereres Wildwasser gepaddelt wird, wurde die Schwierigkeits-Skala nur von einigen wenigen Mutigen nach oben geöffnet. In Eigeninitiative sozusagen. So haben etwa Olaf Obsommer und Jens Klatt in ihrem Norwegen-Flussführer einfach mal eine Sieben eingebaut. Das ist aber eine Ausnahme, eigentlich ist nach wie vor bei Wildwasser sechs Schluss.

Was geschieht also? Die Flüsse werden abgewertet. So war die Friedhofstrecke der Soca bei ihrer Entdeckung Wildwasser vier bis fünf, dann lange Wildwasser vier. Heute wird sie bei normalem Wasserstand oftmals als zwei bis drei betitelt, sportliche Einsteiger fahren nach einer Woche Training hier herunter. Ist das richtig? Ich denke schon. Doch da könnte man am Lagerfeuer lange diskutieren.

Warum ich das alles erwähne? Weil ich mir das Leben nicht leicht mache, zumindest an dieser Stelle, und eine Workshop schreibe, der sich mit dem Sprung aller Sprünge beschäftigt, dem Sprung von Wildwasser III auf IV. Doch dazu bedarf es erst einmal einer modernen Definition von Wildwasser drei und vier.

 

Wildwasser drei

(zum Beispiel Abseilstrecke oder Bunkerschwall der Soca, Loisach Griesenschlucht, Tavignano-Schlucht auf Korsika)

Definition: Im Wildwasser drei lauern das erste Mal ernsthafte Schlüsselstellen. Das können eng verblockte Katarakte sein, Walzen oder auch kleine Rückläufe. Die Durchfahrten sind aber für erfahrene Paddler aus dem Boot heraus gut zu erkennen. Es gibt in der Regel einzelne Stellen, auf die ein Pool, ein ruhig fließender Abschnitt oder ein großes Kehrwasser folgt. Wenn nicht, fehlt in der Regel der Wasserdruck, was den aufeinander folgenden Stellen den Stress nimmt.
 

Wildwasser IV

(zum Beispiel Tiefenbachklamm der Brandenberger Ache ohne Strahl, WM-Strecke der Soca, Loferschlucht der Saalach ohne Dreierkombi, Defilé de Strette des Fium Orbo auf Korsika ohne Doppelstufe, obere Rauma in Norwegen)

Definition: Schlüsselstellen folgen entweder dicht aufeinander oder größere Walzen und Presswasser müssen durchfahren werden. Es können durchaus hohe Stufen und erste Wasserfälle lauern. Die Durchfahrten sind nicht immer klar zu erkennen, man ist gewillt auszusteigen und zu schauen, mit etwas Mut sieht man die Linie allerdings häufig in der Anfahrt ;-) Techniken wie Boofen und das Anschanzen von Locken, Presswassern und Felsen sollte beherrscht werden, um gezielt Stellen anzufahren oder Walzen zu überspringen. Es bleibt in der Regel noch Spielraum um zu experimentieren und Zeit zum Rollen, Schwimmen sollte vermieden werden, da auch Unterspülungen und einzelne Siphone lauern, allerdings nicht im Hauptwasser.

An dieser Definition erkennt man schon, dass im Wildwasser Vier einiges mehr an Präzision und Sportsgeist gefordert ist. Meiner Meinung nach ist demnach der Sprung von WW III auf IV der entscheidende. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen und neben der Sportlichkeit ist auch mentale Stärke für diesen Schritt nötig. Natürlich ist jedem selber überlassen, ob er diesen überhaupt angehen will. Denn der Spaß im Wildwasser definiert sich natürlich nicht über den Schwierigkeitsgrad.

Über Wildwasser V und VI nach heutiger Definition möchte ich an dieser Stelle eher nicht spreche, beides ist absoluten Profis vorbehalten, ein regelmäßiges Training ist unablässig.

 

Die Herangehensweise

 

1. Mentale Vorbereitung, die richtige Einstellung zum Sport

Ich kenne viele Paddler, die schon Jahrzehnte paddeln. Jahrzehnte, in denen sich ihre Paddeltechnik nicht oder wenig weiterentwickelt hat. Diese kommen, in leichter Rückenlage und mit möglichst wenigen Paddelschlägen, die Friedhofstrecke der Soca herunter. Auf der Abseilstrecke fühlen sie sich nicht wohl, weil sie in den ersten drei Stellen (alle 3+) immer rollen müssen oder mit Glück mal die „trockene“ Linie treffen. Auf die WM-Strecke gehen sie lieber nicht - Gott sei Dank - denn hier bleibt weniger Spielraum für Fehler. Wer die Sache von Anfang an so angeht, der kann durch Routine und Bootsgefühl irgendwann Wildwasser drei fahren. Doch dann ist wirklich Schluss. Für einen aktuellen Vierer bedarf es einer anderen Herangehensweise, du musst den Tiger in dir entdecken, wie Kanulehrer-Legende Olli Grau immer sagt.

Zum finden des Tigers gehört neben der richtigen mentale Einstellung auch die aufrechte Sitzposition (Körperspannung). Denn welcher Tiger jagt schon in Rückenlage und mit ausgestreckter Pocke auf der die Schwimmweste wie ein Rettungsring thront. Doch damit nicht genug. Was du beachten und trainieren solltest, versuche ich in diesem Workshop auf den Punkt zu bringen. Viel Erfolg!

 

2. Festige die Rolle

Wer einen echten Viere paddeln will, der muss rollen können. Alleine schon, um seine Grenzen auszuloten und um auch mal was riskieren zu können. Doch eine Schwimmbad-Rolle hilft hier nicht. Gehe gezielt nach draußen und eskimotiere. Erst mit gewohntem Material an deinem Hausbach. Hier reicht schon ein einfacher Schwall, von mir aus auf der Lippe oder der Ruhr. Wenn die Rolle hier sitzt, kaufe dir einen Riverrunner und übe Kerzeln. Dabei wirst du ständig umkippen und in allen Lebenslagen wird dir Geduld unter Wasser und schließlich deine Rolle abverlangt. Steigere dich, suche dir Wellen und Walzen oder stark verwirbeltes Wasser, so dass du dein Paddel nach der Kenterung in der Strömung aufwändig sortieren musst. Dieses Training bereitet dich auf unvorhergesehene Kenterungen im Wildwasser vor.

 

3. Überprüfe dich

Fahre einen Abschnitt, auf dem dich einzelne Stellen fordern. Gibt es zum Beispiel auf der Abseilstrecke drei Stellen, die dich immer fertig machen, ob mental oder physisch, dann steige aus, schau sie dir genau an und analysiere, was dich umwirft. Denk dir die Ideallinie aus und beobachte gute Paddler, wie sie die Stelle paddeln. Versuche deinen Plan in die Tat umzusetzen. Hat es beim ersten Mal nicht geklappt, dann trage erneut hoch und versuche es noch einmal. Genauso machen wir es in unseren Kursen. Wenn die Schlüsselschläge an einer Stelle sitzen und du ein Gefühl für das Wasser bekommst, kannst du deine Erfahrungen auch auf andere Stellen übertragen. Aber das kann dauern, lass dir Zeit.

 

4. Erweitere deine Komfortzone

Fahre bewusst Abschnitte mit einzelnen Stellen, die du eigentlich am liebsten umtragen würdest. Nicht weil sie in einem tödlichen Siphon enden, sondern weil dir die Stelle an sich irgendwie zu scarry ist. Fahre  diese Abschnitte mehrfach. Klar kannst du von fünf Stellen beim ersten Run drei umtragen. Wenn du die anderen zwei aber geschafft hast, wird deine positive Erfahrung dich motivieren und du wirst vielleicht beim zweiten Run nur noch eine Stelle tragen.

 

5. Ein gutes Team

Um deine Komfortzone zu erweitern, brauchst du ein gutes Team mit einer ähnlichen Einstellung und Motivation. Ihr könnt euch gegenseitig puschen, was aber nicht mit Gruppenzwang verwechselt werden darf. Häufig ist es allerdings so, dass einzelne Stellen einen ganz unterschiedlichen Eindruck auf euch machen werden. Die eine Stelle traust du dir zu, dein Kumpel macht sich in die Buchse, bei der nächsten ist es vielleicht genau umgekehrt. Natürlich spielt auch das Thema Sicherheit in einem gut funktionierendem Team eine große Rolle. Ihr solltet Rettungstechniken absprechen und gemeinsam trainieren und ein ähnliches Verständnis vom Absichern und Besichtigen einzelner Stellen haben. Das erhöht den Wohlfühlfaktor.

 

6. Wasser lesen

Wasser ist nicht immer auf deiner Seite, es ist dir aber grundsätzlich nicht feindlich gestimmt. Kann man sich auf Wildwasser drei noch von Locken und Wellen durch die Gegend schupsen lassen, so kann dies im Wildwasser IV fatale Folgen haben. Fährst du in einem Katarakt oder in der Anfahrt zu einer Stufenkombination die erste Walze falsch an, endet deine Fahrt vielleicht auf der komplett falschen Seite des Katarakts. Die Einfahrt sorgt häufig dafür, ob die Befahrung einer Stelle richtig easy oder richtig schlecht läuft…

 

7. Vorfahren

Wer immer nur hinterher fährt, der wird nie lernen, das Wasser zu lesen. Fahre an eine Stelle heran, überlege dir die eleganteste Linie und rechne alle Strömungsformen mit ein. Teile dir den Abschnitt in Diagonalen ein und versuche die Linie Punkt für Punkt abzuarbeiten - auch wenn dich das an der einen oder anderen Stelle stoked, es wird dich nach jedem geschafften Katarakt mental stärken. Foto_004, Driva, Norwegen

 

8. Wer nach links will, der komme von rechts

Hast du die Möglichkeit, so vermeide das Hakenschlagen. Richte dein Kajak vielmehr schon in der Anfahrt so aus, dass du immer in Diagonalen denkst. Willst du nach rechts, komme von links. So zeigt deine Spitze von Anfang an in die von dir gewünschte Richtung und Kurskorrekturen können auch spontan noch vorgenommen werden. Dies ist die beste Möglichkeit, immer Herr der Lage zu sein und nicht Spielball des Wassers.

 

9. Schlüsselschläge

Oder: Qualität statt Quantität. Zu viele, vielleicht sogar hektische Schläge, bringen Unruhe in dein Kajak und versauen dir dein Timing. Arbeite mit Schlüsselschlägen, gut platzierten, kraftvollen Schlägen. So passt dann auch der letzte Schlag an der Abrisskante.

 

10. Boofen und Anschanzen

Ohne geht es heute nicht mehr. Boofen und Anschanzen braucht man nicht nur an haushohen Wasserfällen, sondern man kann alles Anschanzen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Felsen, Walzen, Stufen, Locken, Kehrwasser mit Versatz, Mitpaddler…
Das Ziel beim Boofen und Anschanzen ist es, den Bug an einer Kante in die Höhe zu bekommen, damit die Spitze nicht ins Unterwasser abtaucht. So können zum Beispiel Klemmunfälle vermieden werden, zum Beispiel auf stark verblocktem Wildwasser wie auf Korsika. Auch kann das spontane Anschanzen eines Felsens das Verklemmen in einer zu schmalen Durchfahrt verhindern. Durch Anschanzen eines Felsens gebe ich meinem Kajak die Richtung vor. Ich vermeide das alte Gesetz: Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel und bestimme aktiv die Richtung meines Kajaks.

 

 

 

 

 

 



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