„Ich kann mich an sowas nicht erinnern, weil es das vorher noch nicht gab.“ sagte Sportdirektor Dr. Jens Kahl am Tag nach der Bronzemedaille durch Hannes Aigner in der Pressekonferenz des DOSB. Dieser hatte trotz spontaner Arbeitsverweigerung seiner Armmuskulatur noch einmal alle Kräfte zusammengesammelt und gekämpft bis zum Schluss. Das dürfte wohl auch das Motto dieser Spiele für die Slalomkanuten gewesen sein. In den sechs Wettkampftagen im Kasai Canoe Slalom Centre hatte sich Entscheidung für Entscheidung immer mehr eine Sensation angebahnt.
Den Auftakt machte Sideris Tasiadis im Canadier Einer der Herren, der mit seiner Bronzemedaille bereits gleich zu Beginn den Fluch vom medaillenlosen Rio vergessen ließ. Er demonstrierte nicht nur sich selbst, dass alle im Team in einer starken Verfassung und ernst zu nehmende Gegner sind. Um dies auch wirklich klar zu unterstreichen, ging am Folgetag Ricarda Funk ins Rennen. In einem wahnsinns-Finale gegen die Ausnahmesportlerin Jessica Fox (Australien) und die älteste im Feld Maialen Chourraut (Spanien), welche beide bereits zweifache Medaillengewinnerinnen waren, setzte sich die Olympia-Debütantin an die Spitze und sorgte damit für die erste Goldmedaille des gesamten Team Deutschland bei diesen Spielen.
Allein damit war bereits das gesetzte Ziel von zwei Medaillen erfüllt. Doch zwei weitere Entscheidungen standen noch auf dem Plan. Darunter auch der Canadier-Einer der Damen, welcher hier seine olympische Premiere feierte. Als wäre der Druck als amtierende Weltmeisterin und Gewinnerin des letzten Weltcups vor Olympia nicht schon groß genug, lastete nun auch noch ein bisschen die Erwartungshaltung auf Andrea Herzog, an die Erfolge der anderen beiden anzuknüpfen. Wo andere im Finale wackelten bewies sie Nervenstärke – eine weitere Bronzemedaille für das deutsche Team. Nun war bereits das beste Abschneiden seit 1996 in Atlanta manifestiert. Doch einer fehlte ja noch im Reigen. Mit seiner Zeit in der Qualifikation, womit er das Feld anführte, hatte Hannes Aigner bereits gezeigt, dass er um die Medaillen mitreden könne. Doch kurz vor seinem wichtigsten Lauf wollten seine Arme einfach nicht mehr. „Die haben sich zum Teil selbstständig gemacht.“ Diesen Umständen geschuldet passierte ihm ein Fahrfehler im oberen Streckenteil, der ihn wichtige Sekunden kostete. Doch er biss sich durch bis zum Schluss und das sollte sich auch für ihn lohnen. Mit einer weiteren Bronzemedaille komplettierte er die 100%-Quote des deutschen Teams. In vier Entscheidungen vier Medaillen zu holen – das hatte es in dieser Form tatsächlich noch nicht gegeben. Es war das erfolgreichste Abschneiden der Slalomkanuten seit dem Olympia-Debüt 1972 in München/Augsburg. Damals gewannen BRD und DDR zusammen insgesamt neun Medaillen, wobei hier im Gegensatz zu heute auch in jeder Disziplin drei Boote an den Start gehen durften.
„Ich kann es noch nicht ganz begreifen“ sagte der Bundestrainer Klaus Pohlen nach Aigners Finale am gestrigen Tag. „Das war so wichtig für Hannes, dass er mir da nicht ohne Medaille rausgeht - als einziger. Es war meine größte Sorge, dass es nicht wieder so eine Blechmedaille wie in Rio wird. Ich habe es ihm so gegönnt.“ Sein großes Kompliment geht auch an das Trainerteam von Thomas Apel (für Ricarda Funk und Hannes Aigner) und Felix Michel (für Andrea Herzog). „Sie haben einen super Job gemacht. Der ganze Staff drum herum mit Sportwissenschaft, medizinische Abteilung und Physiotherapie, das hat alles zusammengepasst in den letzten Monaten. Da geht dann mit ein bisschen Glück auch die Geschichte komplett auf. Ich kann nur jedem in der Mannschaft ein Kompliment machen.“
Auf dem Weg zu den Spielen wurden diesmal die Plätze schon im Verlauf des Jahres 2019 ausgefahren – eine neue Herangehensweise im Vergleich zu den vergangenen Olympiaden. Damit standen im Herbst 2019 drei von vier Booten fest – also noch bevor die Corona-Pandemie so einiges über den Haufen warf. „Ich glaube wir haben Vieles richtig gemacht. Als die Pandemie losging, da war erst einmal der große Schock da. Wir haben den Athleten zunächst zwei-drei Wochen Zeit gegeben, sich neu zu orientieren. Aber wir wollten eigentlich das Vorbereitungsprogramm, was wir für Tokyo 2020 geplant hatten, so auch fortsetzen.“ resümiert Kahl. „Da haben wir sofort angefangen, nach Wegen zu suchen, schnellstmöglich wieder mit der Olympiamannschaft in das Training hineinzukommen. Das ist uns regional ganz gut gelungen.“ Aber international wurde es schwierig, der übliche Warmwasserlehrgang in Sydney konnte aufgrund der strikten Einreisebestimmungen dort nicht stattfinden. „Deshalb haben wir La Reunion gefunden, wo Training möglich war. Die französische Insel im indischen Ozean galt damals als Niedriginzidenzgebiet. So haben wir uns Stück für Stück vorgetastet und das hat dazu geführt, dass wir das Training doch so umsetzen konnten, wie wir das wollten.“
Aus Sicht des Sportdirektors war dieses lösungsorientierte Vorgehen einer der Schlüssel zum Erfolg im Vergleich zu vielen anderen Nationen. „Wir haben immer einen Weg gefunden. Das war dann der verdiente Lohn dieser ganzen Zeit und man weiß jetzt, warum man die letzten fünf Jahre so geackert hat.“ Pohlen fügt hinzu: „Was wir immer klar gemacht haben war, dass wir unseren Athleten vertrauen. Ob wir alles richtig gemacht haben, das wissen wir nicht, aber wir haben nicht viel falsch gemacht.“
In einer Sportart, der außerhalb von Olympia kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird, bleibt die Frage, wie es nun in den folgenden Jahren weitergeht. Bundestrainer Klaus Pohlen: „Die Arbeit fängt jetzt erst an, wir haben im Nachwuchs viel zu tun, wir wollen ja auch 2024 wieder am Start stehen.“ Die Zielsetzung sei, den Nachwuchs heranzuführen, ihn an die Hand zu nehmen und zu sagen: „Das könnt ihr auch!“ Aber es gehe auch darum, klarzumachen „worum es hier eigentlich geht: Die Liebe zum Sport. Ruhm gibt es kaum zu ernten. In zwei Jahren weiß das keiner mehr. Es geht darum, etwas für sein Leben zu erreichen und etwas mitzunehmen. Das ist uns hier ganz gut gelungen. Das hat vielleicht den Erfolg ausgemacht.“
Wie man trotz der wenigen Anerkennung am Ball bleiben kann, fasste Andrea Herzog nach ihrer Bronzemedaille klar zusammen: „Es macht so unglaublich Spaß und ich habe einfach Bock auf Paddeln. Ich denke, wir sind eine der schönsten Sportarten – deshalb mache ich sie ja.“
Bleibt nur zu hoffen, dass sich diesmal auch über die zwei Jahre hinaus noch jemand an dieses historische Ergebnis und die erste deutsche Goldmedaille überhaupt erinnern kann. Die Kanu-Welt wird es sicher nicht so schnell vergessen.