05. Mai 2021

Technik: Wildwasser im Packraft

Cijevna/Montenegro, Foto: Holger Lieberenz I Biwak TV

Packrafting spricht überwiegend Paddelneulinge an. Für sie ist es eine Erweiterung ihres Aktionsradius. Dennoch erobern Packrafts nun endgültig obere Schwierigkeitsgrade. Die neueren Entwicklungen (Form und Ausstattung) machen sie mehr und mehr zu aufblasbaren Kajaks. Während Vorreiter die technischen Grenzen austesten, steht für viele die Frage, wie sie sich an ihre persönlichen Grenzen herantasten. Dieser Artikel soll ein paar Grundlagen im Wildwasserfahren liefern.

Von Sven Schellin I Anfibio Packrafting I Erschienen auf packrafting.de (Blog)

 

Trotz der Eigenheiten in der Art mit einem „Miniaturraft“ zu paddeln, Wildwasser für Packrafts’ hat viel mit allgemeinen Charakteristiken im Wildwasser zu tun:

  • Strömungslehre (Wasser lesen)
  • Bootscharakteristiken (das Boot kennen)
  • Fahrtechnik (Schlagarten und Manöver anwenden)

 

1. Strömungslehre: Die Strömung formt den Fluss und der Fluss formt die Strömung

Letztlich ist dies immer eine Variation desselben Themas: Strömung erzeugt Gegenströmung. Die Mischung aus Wassermenge, Gefälle und Hindernissen bildet den Chararkter des Flusses.
Nur wenn alle drei Aspekte zusammen kommen, spricht man von Wildwasser. Klingt seltsam? Ganz einfacher Check: Was passiert, wenn man ein Element auslässt:

  • große Wassermenge mit Hindernissen, aber ohne Gefälle: ein steiniger Bergsee
  • Wasser mit Gefälle, aber ohne Hindernisse: die einfache Wasserrutsche
  • Gefälle mit Hindernissen, aber kaum Wasser: das (trockene) Flussbett

Wildwasser ist immer eine Mischung in unterschiedlichen Anteilen davon. Sinn des Gedankenspiels ist es einzuschätzen, wo die Schwierigkeiten eines Abschnittes liegen. Das ist oft sinnvoller als die internationale Klassifikation der Wildwasserschwierigkeit angibt. Die Stufen I-VI differenzieren darin nämlich nicht. Der Charakter hat jedoch entscheidenden Einfluss in den Auswirkungen auf das Wassersportgerät:

  • Wasserwucht    
  • Verblockung
  • Geschwindigkeit

 

Besonderheit bei Packrafts

Packrafts kommen aufgrund ihres hohen Volumens mit Wassermenge besser zu recht als mit technischer Verblockung, haben jedoch aufgrund der Baulänge auch ihre Grenzen bei hohen Strömungsgeschwindigkeiten.

 

Die vollständige Abhandlung dieses Themas würde den Rahmen eines Einführungsartikels sprengen. Daher soll nur auf ein paar Kernbegriffe und Illustrationen verwiesen werden. Unter diesen kann bei Interesse weiter recherchiert werden. Wie oben angedeutet, geht es immer um dasselbe Thema: Hindernisse in der Strömung erzeugen Gegenströmung.

Eine Flussverengung oder ein unter Wasser liegender Stein staut Wasser an und gibt es wieder frei. Das Ergebnis in unterschiedlicher Ausprägung ist:

  1. Welle: es geht gegen die Strömung bergab

    Gegenströmung und Wellen nach Flussverengung
       

     

  2. Walze: eine brechende Welle bzw. ein rotierender Wirbel entgegen der Hauptströmung

    Der Abfall erzeugt eine Walze
       

    Das Hindernis erzeugt eine Walze
       

     
  3. Kehrwasser: der Strömungsschatten bzw. Gegenströmung nach einem Hindernis

    Kehrwasser nach einem Steinhinderniss
       

     
  4. Prallwasser: Sonderform an Prallwänden ggf. mit Unterspülung

    Das Ergebnis kann Spaß (Welle), Haltepunkt (Kehrwasser) oder Gefahr (Walze, Prallwasser) sein. Die Kunst ist nun diese Formen zu erkennen und einzuschätzen. Dabei sind es die Feinheiten (z.B. die Verschneidungszone zwischen Kehrwasser und Hauptströmung) auf die es ankommt. Generell ist der Wechsel von Haupt- und Gegenstrom die Essenz im Wildwasser. Hindernis und Nutzen zugleich. Es ermöglicht das kontrollierte Befahren und Besichtigen (v.a. durch Kehrwässer) bzw. diese gilt es zu überwinden (v.a in Form von Walzen). Nebenbei ist es Herausforderung und Fahrspaß (z.B. in Form von Surfen).
 



Eine Besonderheit stellen Kurven, als Hindernisse die das Flussbett bietet, dar. Zieht die Hauptströmung in eine Prallwand? Wohin versetzt mich die Seitenströmung? Auch hier kommt es auf die Feinheiten an. Wie stark ist der Strömungsdruck und Geschwindigkeit?
 

   

Besonderheit bei Packrafts

Kurven müssen aufgrund des Driftens von Packrafts (flacher Boden) deutlich übersteuert gefahren werden.

 

Das Verhalten der Wasseroberfläche einer Schnelle dokumentiert, was unter der Oberfläche passiert. Die Sichtbarkeit von Hindernissen unter Wasser ist dabei verzögert. Verwirbellungen (Spitze stromauf) zeigen das Hindernis an. Die Stärke der Verwirbelung gibt die Tiefe des Hindernisses an. Stromzungen (glattes und dunkles Wasser. Spitze stromauf) zeigen die Fahrrinne an.
 

Je tiefer das Hindernis, desto später die Auswirkung
 

   


2. Bootscharakteristiken: die Eigenheiten von Packrafts
 

Foto: Brenta/Italien,Foto Antonio Piro


Grundsätzlich gilt: Packrafts sind komfortabel, agil und sicher. Die größte Herausforderung ist, über seinen eigenen Schatten zu springen. Wie oben angedeutet fangen die Grenze zu anderen Bootstypen an zu verschwimmen (von der Transportabiltät, der Kerneigenschaft und dem Hauptcharakteristikum abgesehen). Dennoch gibt es einige Besonderheiten, welche großen Einfluss auf die Manöver haben:

  • hohes Volumen
  • keine Kanten
  • flexibler Rahmen
  • hohe Anfangsstabilität
  • kurze Baulänge

Das hohe Volumen sorgt für starken Auftrieb. Man paddelt mehr auf dem Wasser als im Wasser. Wellen, Verschneidungen werden daher „überfahren“ und bieten weniger (passiven) Angriff.  Einen ähnlichen Einfluss haben die fehlenden Kanten. Strömungen können so weniger (aktiv) „gegriffen“ werden und die Aktionen sind nicht ganz so präzise.  Der flexible Rahmen (der eigen Körper in Verbindung mit geringem Luftdruck) gleich größere Einflüsse (Abfälle, große Wellen) aus. Die „Stoßdämpfer“ kompensieren einerseits, bieten andererseits geringeren Widerstand (beim durchstoßen von Wellen bspw.). Eine hohe Anfangsstabilität (geringe „Kippeligkeit“) ist insbesondere für Paddeleinsteiger eine große Hilfe. Letztlich geht sie aber immer mit einer geringeren Endstabilität einher. Ist der (hohe) Kenterpunkt überschritten, gibt es kaum ein Halten. Dennoch, das geringe Gewicht und die runde Angriffsfläche lassen auch hier Gegenmaßnahmen zu. Packrafts lassen sich dadurch auch rollen, wenn auch mit mehr Übung (Schenkelgurte vorausgesetzt).
 

Besonderheit bei Packrafts

Packrafts sind allgemein verzeihend bzgl. Fahrfehler, da sie ausgleichen bzw. kompensieren und sehr kentersicher sind.


Die letzte Eigenschaft bezieht sich auf die Bootslänge. „Länge läuft“ ist eine alte Bootsbauerweisheit. Auch hier hat sich viel getan. Packrafts sind mittlerweile alle über 2m lang mit positiven Auswirkungen auf die sog. Rumpfgeschwindigkeit, welche besagt, dass ein Boot nie schneller wird, als seine selbst erzeugte Welle. Und kurze Welle heißt beschränkte Geschwindigkeit. Gerade bei Wildwasserfahren sind Manöver relativ zur Strömung (sog. Seilfähre) gefragt.

 

Besonderheit bei Packrafts

Packrafts haben aufgrund der Baulänge ihre Grenzen bei hohen Strömungsgeschwindigkeiten.

 

3. Fahrtechnik: Schlagarten und Manöver anwenden


Foto: Kanupark Markkleeberg, Foto: Calle M. Müller


Von den üblichen Schlagtechniken: 

  • Grundschlag
  • Bogenschlag
  • Ziehschlag
  • Rückwärtsschläge

sind im Packraft vor allem die letzten beiden von erhöhter Bedeutung. Warum? Während der Grundschlag dem (möglichst kursneutralen) Vorwärtstrieb und der Bogenschlag dem aktiven Drehen des Bootes dient, sind der Ziehschlag und Rückwärtsschlag vortriebsneutral oder sogar negativ. Fehlende Kanten am Boot kann nur das Paddel selbst ausgleichen. Drehfreudig ist das Boot ohnehin (kaum Bedarf an betontem Bogenschlag). Der Grundschlag ist oft nicht ausreichend (geringere Endgeschwindigkeit) um Hindernissen auszuweichen. Also kommt der Ziehschlag zum Einsatz, um das Boot zu versetzen und Kehrwasser zu greifen. Rückwärtsschläge kompensieren dagegen die Zeit zum Ausweichen von Hindernissen. Der Ziehschlag und das Rückwärtspaddeln ist jedoch nicht intuitiv und muss gelernt (und geübt) werden.

Die wichtigsten allgemeinen Manöver im Wildwasserfahren sind:

  • das Ein- und Ausschlingen (ins Kehrwasser)
  • die Seilfähre (Fluss ohne Höhenverlust queren)
  • das Aufkanten (an Strömungsunterschieden)

Auch hier würde die vollständige Abhandlung den Umfang sprengen. Dennoch ein paar allgemeine Hinweise:

Das Grundverhalten ist tatsächlich so, wie man es vermutet: Geradeauslauf und Geschwindigkeit ist nicht seine Stärke. Drehfreudigkeit und Beschleunigung sind jedoch klasse. Deshalb: nutze die Nachteile! Ein paar Zentimeter vor der Walze das Boot auszurichten und zu versetzen, ist kein Problem. Die geringe Masse (Trägheit) und niedrige geringe Angriffsfläche (kaum Tiefgang) setzt hier wenig Widerstand. In der Tat ist die passive und aktive Fahrtrichtung im Wildwasser oft stromauf. Da es so leicht ist, die Richtung zu ändern, kommen Seilfähren, Pirouetten und Ausweichführungen überdurchschnittlich oft stromaufwärts zum Einsatz.
Ohne Kiel und mit einem Seitenverhältnis von ~ 2:1 kann man keine Kantenführung erwarten, dessen muss man sich bewusst sein. Schon verhältnismäßig moderate Kurven bedürfen einer deutlichen Übersteuerung. Fehlende Kanten kann nur das Paddel selbst ersetzen. Das bedeutet, Kehrwässer müssen noch aktiver angefahren und gegriffen werden. Das kann sich im Extremfall so anfühlen, also ob man sich aus dem fahrenden Bus an der Stange des Halteschildes (dem Paddel) aus dem Bus (der Hauptströmung) in die Haltestelle (das Kehrwasser) schwingt.
Und noch eine Eigenschaft direkt an der Wurzel gepackt: die kurze Baulänge und die hecklastige Sitzposition setzen an Rückläufen einerseits Grenzen. Andererseits sorgt das hohe Volumen dafür, dass es dort nicht abtaucht und im Sog abgebremst wird, sondern aufgleitet. Eben ganz genau wie ein Luftkissenboot. Mit etwas Anfahrt und gezieltem Vorgreifen kommt man so über Rücklaufzonen, in denen mancher Kajakfahrer zu kämpfen hat.
Durch das hohe Volumen im Bug neigt das Boot in Wellenzügen natürlich zum „Tanzen“. Hier ruhig mal den Rückwärtsgang einlegen. Ein paar Schläge zurück und man kommt ruhiger und trockner durch die Wellen – die Open Canoe Fahrer wissen wovon ich rede. Vielleicht ist Rückwärtspaddeln die spezifischste Grundtechnik eines Packrafts. Eine gekonnte Seilfähre Rückwärts kompensiert wunderbar die geringe Endgeschwindigkeit beim Ausweichen von Hindernissen. Sie ist für die meisten Paddler jedoch ungewohnt und muss geübt werden!
Mit diesem relativ undifferenzierten Fahrverhalten ist das Herz des Technikers (was für ein Widerspruch) nicht zu gewinnen. Auf der anderen Seite kann die neue Herausforderung erstaunlichen Fahrspaß bereiten. Whitewater one can be fun! Für den Anfänger gilt dagegen: Bis Wildwasser drei alles frei! Auch wenn es nicht elegant aussieht, im Stil eines Autoscooters stromab zu poltern – es geht. Eine niedrige Einstiegshürde als Chance für Neulinge?
(Foto oben rechts: Budweis/Tschechien, Foto: Juliane Hermelbracht)

 

Info Sven Schellin I Anfibio Packrafting

Der gebürtige Leipziger Sven Schellin ist zusammen mit seinem Partner Marc Kreinacker und dem Anfibio Packrafting Team nicht nur Fachhändler und Entwickler von Packrafts und ultraleicher Wassersportausrüstung, sondern betreibt auch einen Blog zum Thema Packrafting als Initiative rund um die Community, Ausrüstung, Touren und Fahrtechniken mit den leichten Rucksackbooten                                      
anfibio.de I packrafting.de I packrafting-store.de

 

 


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