01. Februar 2024

Workshop Outdoor-Medizin: Gefahren im Kaltwasser

Winterpaddeln (Foto: Isrun Bohlinger)

Gerade weil unsere Winter mittlerweile oft tückisch mild sind, wird die Gefahr von einem Sturz ins kalte Wasser oft unterschätzt. Dabei gelten medizinisch gesehen schon Wassertemperaturen ab 25° C als „kalt“, da längere Zeit bei solchen Temperaturen im Wasser bereits zu einem Abfall der Körpertemperatur mit allen negativen Auswirkungen führen. Was sind genau die Risiken von kaltem Wasser – und was kann ich vorbeugend oder im Ernstfall tun?

Von Dr. Ulrich Eiden

 

1. Reflextod

(ab dem Moment des Eintauchens) 

 

"Eine Rettungsweste kann bei
kalten Wasser durch Verhinderung des Schwimmversagens und Senkung des tödlichen Risikos in der Schockphase die Überlebenswahrscheinlichkeit deutlich erhöhen."

Gelangt plötzlich eiskaltes Wasser in die Nase und den Rachen, kann das zum plötzlichen Reflextod führen. Der sogenannte Reflextod bezeichnet einen Kreislaufstillstand, der durch eine überstarke Stimulation des zehnten Hirnnervs (Nervus vagus) hervorgerufen wird und darüber den Herzschlag komplett lahmlegt.
Betroffen sind hier besonders Kinder, ältere Menschen,  alkoholisierte Personen oder Patienten mit neurologischen oder hirnorganischen Vorerkrankungen.

Wie kann ich es vermeiden?

Zur Vermeidung des Reflextodes im Sommer, also bei kühlen Wassertemperaturen und heißen Umgebungstemperaturen, ist es ratsam, sich langsam an die Wassertemperatur zu gewöhnen. Im Winter sollten diese Risikogruppen möglichst Gewässer und Seen meiden. Um einen Reflextod beim „ins Wassertauchen“ zu verhindern, ist es außerdem wichtig, vorbereitet und im Bewußtsein der auftretenden Reaktionen ins Wasser zu fallen. Natürlich  ist  jeder  Unfall  unerwartet (obwohl  meist vermeidbar), aber wenn man nicht gerade ins Wasser geworfen wird, hat man  üblicherweise einige Sekunden Vorwarnung, dass man reinfallen könnte.
Nutze den Augenblick um geistig die Kontrolle zu übernehmen – du weißt, was zu tun ist, um die Überlebenschancen zu verbessern. Dabei „vor dem ins Wasser gelangen“ möglichst tief einatmen, anschließend den Mund geschlossen halten und die Nase mit den Fingern zu halten.  


2. Kälteschock

(größtes Risiko 1–5 Minuten nach dem Eintauchen)

Normalerweise wird beim Untertauchen schlagartig der Atem angehalten und die Stimmritze krampfartig geschlossen. Doch beim plötzlichen Eintauchen in kaltes Wasser werden die Atmung in den ersten drei bis fünf Minuten extrem beschleunigt und koordinierte Schwimmbewegungen deutlich erschwert! Die Effekte sind umso ausgeprägter, je größer die Temperaturdifferenz zwischen Wasser- und Körpertemperatur ist  und je mehr Körperoberfläche im Wasser ist. Hier nicht unterzugehen und zu ertrinken lässt sich nur verhindern, wenn der Kopf passiv aus dem Wasser gehalten wird, sprich: Die Schwimmweste ist unmittelbar lebensrettend.

Was kann ich tun?

Man muss wissen, dass diese Reaktion bis zu drei Minuten dauern  kann und sich dann abschwächt. Wer diese Kälteschockreaktion erwartet und Bescheid weißt, kann mit dem Schock besser umgehen.
Verhalte dich in den ersten Minuten nach dem Sturz so ruhig wie möglich und konzentriere dich während der ersten, äußerst kritischen Minuten darauf, nicht zu ertrinken! Je besser die körperliche Verfassung und Fitness, desto geringer ausgeprägt ist der „Kälteschock“ und desto weniger wahrscheinlich sind auftretende Herzprobleme.  
Das Tragen einer gut sitzenden, d.h. mit einem Schrittgurt versehenen, Rettungsweste hilft, die Atemwege über Wasser zu halten und hektische Schwimmbewegungen in dieser kritischen Phase zu vermeiden. Geeignete, warme  Bekleidung  schützt ebenfalls, da der Kältereiz umso geringer ausgeprägt ist, je weniger ungeschützte Haut mit dem Wasser in Kontakt kommt.

 

3. Stadium: „Schwimmversagen“

(Risiko steigt mit der Zeit, die man sich im Wasser befindet)

Ursächlich für die sogenannte kurzfristige Reaktion oder „Schwimmversagen“ ist der Kälteeinfluss auf die  Muskulatur in den Gliedmaßen, so dass manuelle Tätigkeiten und die Fähigkeit zu Schwimmen beeinträchtigt sind. Mit jedem Grad Temperaturabfall im Muskel verliert man 3 % der Kraft. Beträgt die Temperatur in den  Händen nur noch 20° ist mit einer Verringerung der  Kraft um 50% zu rechnen.
Das Tragen einer Rettungsweste verhindert nicht das Entstehen von Schwimmstörungen, aber wenn die im Wasser befindliche Person das 1. Stadium (d.h. die ersten fünf Minuten!) überlebt hat, keine Rettungsweste trägt, die für Auftrieb sorgt, macht es das „Schwimmversagen“ sehr schwierig das rettende Ufer schwimmend zu erreichen.

Wie kann ich das Schwimmversagen verhindern?

Rettung durch Schwimmen sollte nur der letzte Ausweg sein. Ganz wichtig ist es, Ruhe zu bewahren und mögliche Optionen zu checken: ist es möglich, sich am Kanu oder SUP festzuhalten, einen Mitüberlebenden oder sogar das Ufer zu erreichen?
Wenn es keine Möglichkeiten der unmittelbaren Rettung (!) gibt,  sollte  die  Person  sich  so  gut  wie  es geht treiben lassen, um den Wärmeverlust zu  minimieren  und  auf  Rettung  warten.


4. Stadium: Unterkühlung

(Häufigste Todesursache ab 30 Minuten aufwärts)

Als Unterkühlung wird eine Körperkerntemperatur (KKT) unterhalb von 35°C bezeichnet.

Faustregel

Ohne besondere Kälteschutzausrüstung sinkt die KKT im 5°C kalten Wasser um 1°C alle 3 Minuten.

Jedes Kleidungsstück und eine ordentliche Speckschicht („Biopren“) bremsen das Auskühlen. Der Betroffene zittert, solange er die Kraft dazu hat. Bei Älteren oder Herzkranken kann das Kältezittern durch den vermehrten Sauerstoffverbrauch der Muskeln gefährlich werden, wenn für deren Versorgung das Herz mehr pumpen soll, als es kann. Um die Wärmeverluste über Haut, Arme und Beine („Körperschale“) zu minimieren, wird deren Durchblutung gedrosselt. Dadurch ist die Haut kalt und bläulich-blass, die Finger und Zehen schmerzen. Die „Nagelbettprobe“ ist auffällig, d. h. nach kurzem Druck auf das Nagelbett braucht es mehr als 2 Sekunden, bis die Farbe wieder rosig ist. Nach erfolgreicher Rettung führt die Unterkühlung zu einer vermehrten Urinausscheidung, einer Hemmung der Blutgerinnung und zu einer Abwehrschwäche. Mögliche Folgen sind Kreislaufstörungen, verstärkte Blutungen, Harnwegsinfekte und Lungenentzündungen.
Abhängig von der körperlichen Fitness ist eine Körperkerntemperatur unterhalb von 32°C, erst recht unterhalb von 28°C unmittelbar lebensbedrohlich. Solche Werte werden bei 5°C Wassertemperatur schon nach 20 bis 30 Minuten erreicht! Der Kreislauf ist zentralisiert: Hauptsächlich wird nur noch der „Körperkern“, also Rumpf und Kopf versorgt. Der Unterkühlte kann jederzeit durch Herzrhythmusstörungen, genauer gesagt durch ein Kammerflimmern plötzlich sterben.

Alarmzeichen

  • Apathie bis hin zur einer Bewusstlosigkeit,
  • fehlendes Muskelzittern trotz der Unterkühlung
  • ein paradoxes Wärmegefühl, weshalb sich mancher Unterkühlter auszieht.

 

Bergungstod

Eine Änderung der Körperposition während der Rettung eines kritisch Unterkühlten verschiebt Blut aus den noch kälteren Armen und Beinen in den Rumpf, so dass die KKT weiter fällt („Afterdrop“) und ein hypothermer Herztod provoziert wird.


Ein Kreislaufstillstand durch Unterkühlung kann trotz stundenlanger Wiederbelebung ohne dauerhafte Schäden überstanden werden, selbst nach Ertrinken! Starte sofort mit der Herzdruckmassage. In der Corona-Krise wird von den Fachgesellschaften keine Mund-zu-Mund/Nase-Beatmung empfohlen. Bei Kindern oder den eigenen Angehörigen ist es dem Ersthelfer überlassen, es doch zu tun – trotz der potenziellen Infektionsgefahr .

 

 

Erste Hilfe bei Unterkühlung:

 

  • Bewegung bzw. Muskelwärme nur, wenn keine Hinweise auf eine lebensgefährliche Unterkühlung bestehen. Ansonsten erfolgt die Rettung möglichst vorsichtig und waagerecht, ohne die Arme und Beine hin- und her zu bewegen, um keinen Bergungstod zu provozieren.
  • Passive Erwärmung: Abtrocknen, nasse Kleidung wechseln, Mütze aufsetzen, am besten in einen warmen Schlafsack. Stopfe notfalls eine Zeitung oder trockenes Laub unter die Jacke.
  • Warme, süße Getränke. Solange der Betroffene noch bei Bewusstsein ist, sollte er zum Trinken angehalten werden. Kein Alkohol, weil dieser das sinnvolle Kältezittern unterdrückt! Ob Alkohol die Gefäße erweitert und so das Einströmen kalten Blutes in den Körperkern verstärkt, ist wissenschaftlich umstritten.
  • Aktive Erwärmung:
  • Hibler-Wärmepackung: Um das Einströmen kalten Blutes aus den Extremitäten und damit einen Afterdrop zu vermeiden, wird bei kritisch Unterkühlten zuerst gezielt der Rumpf (Brust und Bauch) erwärmt. Dazu werden feucht-heiße, in Plastiktüten verpackte Kleidungsstücke oder Handtücher (40°C) benutzt. Einfacher und ohne Nässe geht das mit der Ready-Heat®-Einwegdecke (Modell G12RH2, 680 g, ca. 45 Euro). Sie funktioniert wie die Wärmepflaster für Rückenschmerzen: 15 - 30 min nach dem Öffnen ihrer Verpackung heizt sie sich sechs Stunden lang auf 40 bis 52° C auf. Anschließend folgt ein weiteres Einpacken des gesamten Körpers mit Decken oder was sonst zur Verfügung steht.
  • Nutze Getränkeflaschen mit heißen Wasser als improvisierte Wärmflaschen. Wickle sie in Stoff ein, um Verbrühungen zu vermeiden.
  • Körperwärme: Helfer oder ein treues Tier können unter schwierigen äußeren Bedingungen mit ihren eigenen Körpern den Unterkühlten aufwärmen. Koppelbare Schlafsäcke sind dazu ideal.
  • Beheizte Fahrzeuge oder Unterkünfte. Selbst ein Teelicht spendet unter einem Poncho schon beachtliche Wärme. Heizstrahler dürfen nur unter ständiger Beobachtung benutzt werden, um Verbrennungen zu vermeiden.
     

 

Wann wird der Rettungsdienst alamiert?


- Bei einer Körperkerntemperatur unter 35°C und/oder
- bei zusätzlichem Alkoholeinfluss, bei Älteren oder Herzkranken und/oder
- bei Alarmzeichen wie fehlendem Kältezittern, Schläfrigkeit oder Bewusstlosigkeit und/oder
- bei Verletzungen, nach Beinahe-Ertrinken oder
- wenn sich die Situation unklar ist.
 

 

Wichtiger Hinweis


Die hier sorgfältig ausgewählten und dargestellten Maßnahmen, Hilfsmittel und Medikamente sind risikoarm. Trotzdem übernehmen der Autor wie der Verlag keine Haftung für Schäden, die aus deren Anwendung entstehen. Autor und Verlag genießen keine materielle Zuwendung Dritter für deren im Artikel erwähnten Produkte - abgesehen der freundlicherweise zur Verfügung gestellten Fotos. Die Aufzählung der Produkte und die Preisangaben ist beispielhaft und nicht abschließend. Es mag ebenso gute oder bessere Produkte geben. Der fehlende Hinweis auf einen Markennamen bedeutet nicht, das diese frei verfügbar sind.
 

 

 


 

 

 


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