16. Mai 2024

Zehn Regeln zur Risikovermeidung - auch und besonders für Ältere

Ein wesentlicher Sicherheitsgewinn der Gruppenfahrt besteht darin die Verantwortung für sicherheitsrelevante Entscheidungen einem erfahrenen Fahrtenleiter zu übertragen. (Foto: Andreas Bohn)

Irgendwann kommt der Punkt, dass wir uns dem Risiko des Küstenkanuwanderns nicht mehr gewachsen fühlen. Der Weg hin zum „Exit“ läuft nicht immer reibungslos ab.

Von Bernd Kirchhoff

Uns ist das bewusst. Wir setzen uns dabei selbst Grenzen, die wir nicht überschreiten wollen, sei es:

  • dass wir mit dem Paddeln aufhören wollen, wenn wir nicht mehr ohne Hilfe Dritter ins Seekajak ein- bzw. aussteigen können;
  • dass wir nicht mehr in der Lage sind, unsere Seekajaks allein auf dem Auto zu verstauen bzw. hin zur Einsatzstelle zu tragen;
  • dass wir nicht mehr mit dem Wandertempo und der Paddelstrecke unserer Mitpaddlerinnen und Mitpaddler mithalten können;
  • dass wir mit der Pauseneinteilung nicht zurechtkommen;
  • dass wir bei Gepäckfahrten immer häufiger etwas vergessen;
  • dass uns der Seegang immer mehr stresst;
  • dass wir immer öfter kentern!

     

Regeln zur Risikovermeidung

 
 
  1. Richtiger Moment
    Auf unsere „alten Tage“ sind wir frei unsere Touren ohne Rücksicht auf berufliche Verpflichtungen auch kurzfristig planen zu können. Wir suchen uns deshalb nach der Wettervorhersage Ziele und Zeitfenster aus, die uns eine mittlere Windstärke von voraussichtlich nicht über 3 Bft. und Böen nicht über 4-5 Bft bescheren. Der Wetterbericht wird unbedingt kurz vor der Abfahrt erneut geprüft!  
  2. Lee-Küste bzw. Insellandschaften bevorzugen
    Die Lee-Küste schützt vor Wind und Wellen, solange wir nahe genug unter Land bleiben können. Die Luvseite hat nicht nur mehr Wellengang. Bei einer Steilküste sind zusätzlich noch reflektierte Wellen auszubalancieren („Eierkarton“). Gibt es keine Anlandemöglichkeit, können wir spätestens bei einer Kenterung auf die Felsen gedrückt werden. Insellandschaften (z.B. nord- bzw. ostfriesische Küste, vorpommersche Boddenlandschaft, dänische „Südsee“, schwedische Schären) zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass wir bei der Kursplanung darauf achten können, stets im Inselschutz zu paddeln, wenn es zu stark winden sollte!
  3. Offen für eine Kursänderung oder Unterbrechung
    Wo Wind, Wasser und Land zusammentreffen ändern sich Bedingungen ständig. Wenn wir deshalb doch einmal unerwartet mit widrigen Verhältnissen konfrontiert werden (z.B. Brandung, Kreuzseen, Grundseen, Stromkabbelung, aufkommender Seewind, Fallwinde, Düsen- oder Kapeffekte), dann nehmen wir eine Kursänderung vor, die uns in ein Gebiet mit weniger schwierigen Gewässerbedingungen führt, oder wir schauen rechtzeitig nach einer geeigneten Stelle zum Anzulanden. Entweder man richtet sich für eine Übernachtung ein, oder es genügt lediglich eine Pause, um die Fahrt anschließend unter leichteren Bedingungen fortsetzen. In den nördlichen Paddelrevieren geben uns die langen Tage der Sommermonate den Freiraum für ungeplante Unterbrechungen. Den Zeitpunkt für eine Anlandung bestimmt der Fahrtenleiter, ggf. auch initiiert durch Mitpaddelnde, die sich bei den aktuellen Bedingungen nicht mehr wohl fühlen. Übrigens, für wetterbedingte Wartezeiten sollte es einen „Beschäftigungsplan“ geben: Wanderungen, Besichtigungen, Lesen oder Reparaturen durchführen.  
  4. Breites Boot   
    Je breiter das Seekajak umso kippstabiler ist es. Nicht umsonst sind Wildwasserkajaks 60 bis 66 cm breit. Typische Seekajaks sind mit 50 bis 58 cm Breite kippliger. Zwar bedeutet der schmale, lange Rumpf unter bestimmten Bedingungen einen geringeren Wasserwiderstand und so mehr Schnelligkeit („Länge läuft“ und „Breite bremst“). Wie Testberichte des US-amerikanischen Magazins SEA KAYAKER immer wieder zeigten, nimmt der Wasserwiderstand erst ab einer Geschwindigkeit oberhalb von 7,5 km/h deutlich zu. Auf unseren Gepäckfahrten liegen wir mit durchschnittlich 5 km/h drunter. Wir sollten daher im Alter der Kippstabilität Priorität einräumen und uns eher für ein Seekajak mit einer Breite von 58-60 cm (aber auch: mit etwas Kielsprung und einem U-Spant) entscheiden; denn wer vor lauter Kippligkeit immer wieder stützen muss, kommt beim Streckepaddeln nicht voran!
  5. Fahrtenleiter
    Ein wesentlicher Sicherheitsgewinn der Gruppenfahrt besteht darin die Verantwortung für sicherheitsrelevante Entscheidungen einem erfahrenen Fahrtenleiter (Bild 4) zu übertragen. Mit Erfahrung und guter Beobachtungsgabe lassen sich viele Seekajakunfälle vermeiden. Vor Beginn der Fahrt sollte Konsens über die Anforderungen der anstehenden Etappe bestehen, etwa zu Wetterbedingungen, Ortsbesonderheiten, Bekleidung (Trockenanzug), Pausen.
  6. Sicherheit schlägt Einzelinteresse 
    Es ist unvermeidlich die Routenführung auch unterwegs noch an neue Windbedingungen anzupassen. Die sicherheitsrelevanten Entscheidungen des Fahrtenleiters (Kurswechsel, Abbruch) haben das schwächste Mitglied im Blick. Starke Paddler sollten sich unterordnen, ja den Fahrtenleiter bei der Betreuung der schwächeren Mitpaddler unterstützen. Andernfalls wird den Zusammenhalt der Gruppe gefährdet.
  7. Hantieren – Stabilisieren
    Es ist zwar verständlich, wenn man unterwegs nicht alle aufhalten möchte, nur um sich eben was überzuziehen, ein Foto zu machen, oder hinter sich nach den Nüssen zu tasten. Doch gerade solche banalen Anlässe können einen unvermittelt kentern lassen. Außerdem verliert man schnell den Kontakt zur Gruppe und wundert sich, wie schwer es fällt wieder Anschluss zu bekommen. Besser ist es die Gruppe kurz stoppen zu lassen, so dass jemand helfen kann, das Seekajak zu stabilisieren (Päckchen). Wenn jeder weiß, wann ungefähr die nächste Pause kommt, können wir uns auch überlegen unser Bedürfnis aufzuschieben. Auch der Blick zurück, etwa um sich zu vergewissern, dass niemand zurückfällt, ist riskant. Deshalb empfiehlt sich auf freier Fläche nebeneinander („Nordfriesische-Formation“) und nur an Engstellen hintereinander zu paddeln („Entenpolonaise“), wobei ein starker Paddler den Schluss bildet.  
  8. Untergruppen
    Aufmerksame Anteilnahme erlaubt Ermüdung oder Unwohlsein zu erkennen, bevor daraus ein Unfall wird. Damit das funktioniert, dürfen die Gruppen nicht größer als 3-4 Kanuten sein. Bei größeren Verbänden müssen Untergruppen gebildet werden.
  9. Anlanden
    Herrschen Seegangsbedingungen vor, sollten beim Anlanden die Fittesten vorgeschickt werden, damit sie den Nachfolgenden Hilfestellung geben können. Beim Ablegen gilt die umgekehrte Reihenfolge: Der Fitteste startet als Letzter, nachdem er den weniger Fitten vorher Starthilfe gegeben hat.
  10. Landtransport
    Die Gefahren einer Küstentour beginnen mit der Auto-Anfahrt und enden mit der Auto-Rückfahrt. Als wir noch jung waren, haben wir noch mit Bewunderung vernommen, dass jemand Non-Stopp von Norddeutschland bis zur kroatischen Adria gefahren ist. Jetzt im Alter schütteln wir darüber den Kopf wohlwissend, wie schnell aus einer Übermündung ein Sekundenschlaf und aus einem Sekundenschlaf ein Unfall werden kann. Die Pauseneinteilung und der Fahrerwechsel ist daher im Alter das A & O einer sicheren Autofahrt. Nicht minder problematisch kann der Landtransport der Seekajaks z.B. vom Auto zum Wasser bzw. vom Wasser zum Zelt werden. Deshalb sollten im Alter Einer-Seekajaks stets zu zweit getragen werden und beladene Einer-Seekajaks zu viert. U.U. bietet sich stattdessen auch der Einsatz eines Bootswagen an. Wer das ignoriert – oder am Anfang einer Tour demonstrieren will, wie kräftig er ist – fängt sich schnell einen Hexenschuss oder Schulterprobleme ein und ist ab sofort während der ganzen Tour auf die Hilfe Dritter angewiesen!

     

 


 

 

 


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