16. Mai 2024

Küstenkanuwandern im Alter, wie sicher ist das?

Altersgemischte Kajak-Gruppe wartet vor der Küste im „Päckchen“ (Foto: Andreas Bohn)

Seekajakfahrer sind im Allgemeinen gut ausgebildet und ausgerüstet. Die Verantwortung für uns selbst, die Familie und die Kameraden gebieten es Sicherheitsüberlegungen oberste Priorität einzuräumen. Das Befahren von Großgewässern verlangt neben Erfahrung vor allem Vorsicht und Ausdauer. 28% der erwachsenen Mitglieder des Deutschen Kanuverbandes (DKV) sind älter als 61 Jahre (Stand 2022). Die überwiegende Anzahl meiner Mitpaddler sind älter als 70 Jahre. In altersgemischten Gruppen werden gerade ältere Kajakbrüder und -Schwestern geschätzt, wegen ihres Urteilsvermögens und ihrer integrativen Fähigkeiten. Auf der anderen Seite erschweren mit zunehmendem Lebensalter körperliche Gebrechen und chronische Krankheiten das Paddeln, sei es auch nur weil nicht mehr so leicht ins Kajak ein - und ausgestiegen werden kann.

Von Bernd Kirchhoff

 

Zunächst wird besprochen, wie die tourentypischen körperlichen Voraussetzungen für das Kajakfahren durch Altern schwinden. Im Einzelnen wird eingegangen auf Ausdauer, Kraft, Gleichgewichtssinn, Beweglichkeit und Koordination. Anschließend wird dargelegt, wie die unvermeidliche Leistungsabnahme teilweise kompensiert werden kann. Zur Sprache kommen Training, Gefahrenprophylaxe und altersadaptierte Rettungstechniken.

 

Ausdauer

Es ist allgemein anerkannt, dass die körperliche Leistungsfähigkeit im Alter nachlässt. Die Hauptgründe sind weniger das Alter an sich als der Bewegungs- oder Trainingsmangel. Tatsächlich nimmt die Ausdauer bei trainierten Alten (sog. „Masterathleten“) langsamer ab, nämlich ab dem 40. Lebensjahr lediglich um 7 bis 14% pro Lebensdekade (1).

Die Ausdauer des Seekajakfahrers ist insofern sicherheitsrelevant, als Touren auf Großgewässern in Zeitfenstern zu planen sind, und zwar vor allem in Abhängigkeit von Wind und Strömung (Tidenstrom). Fällt jemand zurück, gefährdet er sich und andere. Alle Mitglieder der Gruppe sollten deshalb in der Lage sein über mehrere Stunden zügig zu Paddeln, unterbrochen nur durch Trinkpausen (wenigsten einmal pro Stunde) dazu möglichst alle zwei Stunden eine Pause mit Ausstieg an Land.
Wie erfüllen wir unsere selbstgestellten Anforderungen an die Ausdauer?
Gerade zu Beginn einer neuen Paddelsaison müssen wir einen angemessenen Trainingszustand erreichen. Auf jeden Fall sollten wir im Monat vor der ersten längeren Fahrt nach der Winterpause Trainingsfahrten von mindesten 60 bis 80 km anpeilen, damit wir in unserer Altersklasse der 70 bis 80-Jährigen fit für eine Reisegeschwindigkeit von 5 bis 6 km/h und für Tagesetmale von 15 bis 30 km sind.  

 

Muskelkraft

Die Muskelmasse nimmt ab 65 Jahren 1-2% pro Jahr langsam ab (2) . Übergewicht beschleunigt (3), körperliches Training verlangsamt den Prozess (4). Die Muskulatur ist als Einheit mit den dazugehörigen Sehnen zu betrachten. Ein Missverhältnis in der mechanischen Belastung zwischen Muskel und Sehne - im Alter noch verstärkt durch eventuelle unerkannte degenerative Sehnenschäden bzw. Knorpelschäden (5) - kann schon bei Bagatell-Beanspruchung zu Sehnenverletzung führen. Das Verletzungsrisiko steigt mit dem Alter an (6).   
Kraftreserven tragen zur Sicherheit des Paddelns bei (zusammen mit der Technik). So beim Spurt in der Brandungszone, bei der Stütze in der Welle, beim Wiedereinstieg nach dem Ausstieg. Wichtiger noch ist aber, dass die Muskulatur zur Schonung der Gelenke und Bänder beiträgt. Unter den Verletzungen beim Seekajakfahren sind Schulterverletzungen (Ausrenkung) mit 12% häufig (7). Die außerordentliche Bewegungsfreiheit der Schulter wird mit Abschlägen bei der Stabilität erkauft. Der wichtigste Stabilisator ist die muskuläre „Rotatorenmanschette“ (8). Typischerweise gehen Schulterverletzungen auf akute Fehlbelastung zurück, etwa bei der hohen Paddelstütze oder beim Umtragen der Kajaks.
Für uns bedeutet das: Das Training vor Beginn der Paddelsaison ist unverzichtbar. Es ist so zu dosieren, dass der langsam reagierende Sehnenapparat nicht durch die rasch zunehmende Muskelkraft überbeansprucht wird (Muskel-Sehnen-Ungleichgewicht) (9).  Es ist ratsam die Muskulatur zunächst in geschützten Kleingewässern (See, Kanal) aufzutrainieren. Speziell für die Schultermanschette sind Trockenübungen („Wintertraining“) z.B. mit dem Fitness- oder Terra-Band geeignet . Einen Trainingsplan zur Vorbereitung auf die Saison für Einsteiger und Fortgeschrittene hat Tina Schmitt (DKV) zusammengestellt.


Gleichgewichtssinn

Die altersbedingt eingeschränkte Körperhaltung und Orientierung im Raum, die Presbyastase (10) geht mit einer Abnahme der Sinneszellen im Innenohr (Vestibulum) einher. Der Gleichgewichtssinn integriert das Zusammenspiel des Innenohrs mit dem Muskel-Skelettsystem, mit der Tiefenwahrnehmung der Muskulatur, mit dem Gesichtssinn (Augen) und dem Gehirn. Alter gilt als das höchste isolierte Risiko für Stürze [L4]. 30% Prozent der über 70-Jährigen und 50% der über 80-Jährigen, sind von Schwindel betroffen (11). Zusätzlich kann Schwindel durch bestimmte Medikamente (12) begünstigt werden; zum Beispiel durch Präparate gegen den hohen Blutdruck oder die Zuckerkrankheit. Anders als zu „Kraft“ und „Ausdauer“ gibt es keinen wissenschaftlichen Beleg hoher Evidenz dafür, dass man seinen Gleichgewichtssinn durch Training (Wassergymnastik, Tai Chi) verbessern kann (13). Trotzdem empfiehlt die WHO Tai Chi, obwohl die Studienergebnisse dazu bis heute kontrovers diskutiert werden (14).
In Seekajak-Foren finden wir die Meinung, dass „Junge“ mit kippligen Booten besser zurechtkommen als „Alte“. Aber auch wir „Alten“ scheinen über die Saison an Sicherheit hinzuzugewinnen. Trotzdem bleibt die Besorgnis, dass ein Mangel an Gleichgewichtssinn die Ausübung des Seekajak-Sports früher oder später gefährden könnte und uns häufiger kentern ließe. Die wichtigste Technik zur Vermeidung von Kenterungen auf See ist die Stütze. Sie ist bei uns über die Jahre reflexartig eingeübt und perfektioniert. Dabei wird der Paddelrhythmus unterbrochen. Oder das Paddel wird häufiger und kürzer eingetaucht. Jeder Paddelschlag wirkt dabei wie eine Mini-Stütze. Der Nachteil ist: Wer stützt unterbricht den Vorwärtsschub. Weniger Fahrt im Boot bedeutet weniger Stabilität. Die Gruppe droht sich auseinanderzuziehen. Wenn wir im Alter mit dem Gleichgewichtsinn an Grenzen stoßen, dann müssen wir folgerichtig danach streben Grenzbelastungen auszuweichen. Eine Zusammenfassung von Risiko-Vermeidungs-Techniken wird am Schluss des Beitrages aufgelistet.


Beweglichkeit und Koordination

13% der über 65-Jährigen und 35% der über 85-Jährigen sind im Alltag beeinträchtigt, bei Verrichtungen, die beidhändiges Hantieren erfordern, zum Beispiel Waschen und Ankleiden (15). Altern verschlechtert also die bimanuelle Koordination.  Parallel nimmt die freie Beweglichkeit der Gelenke ab. Dabei sind Schulter und Oberkörper stärker betroffen als z.B. das Knie und Ellbogen-Gelenk (16).

Das Paddelfloat fährt U. Komander stets griffbereit auf dem Vordeck (Fotograf: Udo Beier)

Eine intakte neuromuskuläre Koordination ist insofern sicherheitsrelevant für das Seekajakfahren, weil die Durchführung der flachen bzw. hohen Paddelstütze, insbesondere aber auch die Rettungstechniken (hier: Rolle; Lenz- und Wiedereinstiegstechnik) hohe Anforderungen an Koordination, Beweglichkeit und auch Kraft stellen. Nicht nur den Älteren unter uns wird daher das ständige Üben der relevanten Paddel- und Rettungstechniken angeraten. Ein über 70-Jähriger in unserer Gruppe praktiziert die „Re-Enter and Roll-Technik“. Mindestens einmal bei einer jeden Küstentour sollte das Stützen, Rollen, Lenzen und Wiedereinsteigen geübt werden, wohl wissend, dass das uns spätestens im Alter immer schwerer fallen wird und dabei Verletzungen von Schulter, Arm und Rumpf nicht auszuschließen sind. Wer das vermeiden will, sollte sich erstens vorher mit ein paar Gymnastikübungen aufwärmen und sollte es zweitens mit den Übungen nicht übertreiben, denn wenn die üblicherweise im Alter anzutreffende durch Arthrose geschädigte Wirbelsäule bzw. die Schulter-, Ellenbogen-, Hand- aber auch Kniegelenke erst einmal durch Überbeanspruchung gereizt werden, dann kann es lange dauern, bis die damit verbundenen Schmerzen sich wieder legen.

„Hand aufs Herz“, wer unterzieht sich im Alter bei jeder Küstentour dieses Paddeltechnik- und Rettungstechnik-Trainings und wer schafft es, diese Techniken zu beherrschen, und zwar nicht nur bei Ententeichbedingungen, sondern auch wenn es windet und wellt?

Daraus sollten folgenden Konsequenzen gezogen werden:

  • Nur wenn wir das Stützen und die Rolle beherrschen, können wir hinaus aufs offene Meer paddeln, auch wenn es mit 4 und mehr Bft. weht. Doch Vorsicht, wenn Dünung Grundseen entstehen lässt; denn nicht immer sind diese beherrschbar, egal wie sicher die Rolle klappt!
  • Wer nicht die nötigen Lenz- und Wiedereinstiegs-Techniken beherrscht, der sollte nur bis 3 Bft. Wind paddeln gehen, Brandungsbereich meiden und stets ganz dicht entlang der Küste paddeln, sodass er nach einer Kenterung ans Ufer schwimmen kann. D.h. die Hoffnung, wir werden schon nicht kentern und wenn doch, sich irgendwie schon retten, ist keine zuverlässige Überlebensstrategie.

 

 

Exkurs: Sit-on-Top Kajak

 

Bei einem Sit-on-Top Kajak (SOT) – also einem Seekajak ohne Sitzluke aber mit offener Sitzwanne/-schale - braucht der autonome Wiedereinstieg weniger Balance, Kraft und Koordination.  Mit geeignetem Timing kann die Welle sogar helfen, den Oberkörper quer über die Sitzschale zu schieben (17). Liegt das Boot mit Gepäck tiefer im Wasser, wird der Einstieg nochmal leichter. Ein weiterer Sicherheitsgewinn ist, dass man das Paddel schnell wieder zum Stützen zur Hand hat. Lenzen und Hantieren mit der Spritzdecke entfallen [L9]. Auch Anlanden und Ablegen ist einfacher, wenn wir im Knie-tiefen Wasser quasi in „Stuhlhöhe“ aus- und einsteigen. Leider gibt es kaum touren-taugliche SOT-Angebote auf dem Markt (Epic V6 Touring, Mirage 583 Adventure). Reine Surfskis haben leider zu wenig Stauraum für Gepäcktouren.
 

 

 

Literaturliste


(1)  Rittweger J, di Prampero PE, Maffulli N, V.Narici M: Sprint and endurcance power and agering: an analysis of master athletic world records. Proc. R. Soc. B 2009; 276: 683-689.
(2)  Skeleton DA, Greig CA, David JM, Young A: Strength, power and related functional ability of healthy people aged 65-89 years. Age and Ageing 1994; 23: 371-377.
(3)  De Carvalho DHT, Scholes S, Santos JLF, De Oliveira C, Tiago da Silva A: Does abdominal obesity accelerate muscle strength decline in older adults? Evidence from the english longitudinal study of ageing. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2019; 74: 1105-1111.
(4) Drey M, Sieber CC, Degens H, McPhee J, Korhonnen MT, Müller K, Ganse B, Rittweger J: Relation between muscle mass, motor units and type of training in master athletes. Clin Physiol Funct Imaging 2016; 16: 70-76.
(5)  Zhou B, Zhou Y, Tang K: An overview of structure, mechanical properties, and treatment for age-related tendinopathy. J Nutrition Health Age 2014; 18: 441-447.
(6)  Kannus P, Niittymäki S, Järvinen M, Letho M: Sports injuries in elderly athletes: A three-year prospective, controlled study. Age and Ageing 1989; 18: 263-270.
(7) Powell C: Injuries and medical conditions among kayakers paddling in the sea environment. Wildernss Environ Med 2009;29: 327-334.
(8) Akhtar A, Richards J, Monga P: The biomechanics of the rotator cuff in health and disease – A narrative review. J Clin Orthop Trauma 2021; 18: 150-156.
(9)  Mersmann F, Bohm S, Arampatzis A: Imbalances in the development of muscle and tendon as risk factor for tendinopathies in youth athletes: A review of current evidence and concepts of prevention. Front. Physiol 2017; 8: 1-17.
(10)  Konrad HR, Giardi M, Helfert R: Balance and aging. Laryngoscope 1999; 109: 1454-1460.
(11) Jonsson R, Sixt E, Landahl S, Rosenhall U: Prevalence of dizziness and vertigo in an urban elderly population. J Vest Res 2004; 14: 47–52.
(12)  Chimirri S, Aiello R, Mazzitello C, Mumoli L, Palleria C, Altomonte M, Citraro R, De Sarro G.J: Vertigo/dizziness as a Drugs' adverse reaction. Pharmacol Pharmacother 2013; 4(Suppl 1): 104-109.
(13)  Martínez-Carbonell Guillamón E, Burgess L, Immins T, Martínez-Almagro Andreo A, Wainwright TW: Does aquatic exercise improve commonly reported predisposing risk factors to falls within the elderly? A systematic review. BMC Geriatr 2019;19:52-68.
(14)  Lavery LL, Studenski SA: Tai chi, falls, and the heritage of JAGS. Am Geriatr Soc 2003;51:1804-1805.
(15)  Schulz AB: Mobility impairment in the elderly: Challenges for biomechanics research. J Biomechanics 1992; 25: 519-528.
(16) De Oliveira Medairos HB, de Araujo DSMS, de Araujo CGS: Age-related mobility loss is joint specific: an analysis from 6,000 Flexitest results. Age 2013;35:2399-2407.
(17)  Kirchhof B: SOT ist Top! Küstentouren mit einem Sit-on-Top (SOT) Kajak, macht das Sinn? Seekajak 2016;146:20-23.
(18)  Beier U: Fünf vor Zwölf; All-in (3) in der Brandung vor Baltrum. Seekajak 2019;160:10-12.
 

 

 


 

 

 

 


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